mimicry (2010) __

the shaman (2009) __

sieg und niederlage (2008-10) __

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traktat über die schlange (1998) __

turns (2001-2009)

Nation & Exzess V: Nationalismus als Glaubenssystem                        


Die Arbeiter haben kein Vaterland. – Karl Marx

 

(a) Das Bild

Heimat, Nation, Kultur, Rasse, Ethnie, Volk usw. sind relativ moderne Konzepte zur Erzeugung von Gruppenverbindlichkeiten, die sich über Generationen hinweg erhalten sollen bzw. sich historisch erhalten haben. Derartige Meuten- und Rudelbildungen, die sich an symbolischen „Akten“ orientieren, hat es in verschiedenen Ausformungen schon lange gegeben. Zumeist gehen handfeste Interessen dem symbolischen Ausdruck voraus (z.B. Beuteneid, Landgewinn, Profit, Unterdrückung, Zugang zu Ressourcen), aber erst die Symbolkommunikation (jenseits der „Face-to-Face“-Kommunikation) ermöglicht die widerspruchsfreie Synthese einer überzeitlichen Gemeinschaft, die sich als „Nation“, „Kultur“ oder „Volk“ manifestieren kann.

Die Meute – wie Elias Canetti vielleicht formulieren würde – wird erst im Bild überzeitlich, denn sie vergewissert sich eines anderen Territoriums, das in der Steppenlandschaft des Urmenschen nicht horizontal, sondern vertikal einzuordnen ist. Die vertikale Verbindlichkeit – verortbar zwischen dem Begraben der „eigenen“ Toten und dem göttlichen Himmelsbezug (christlich: Wiederauferstehung) – kann sich nur in der Synthese von „Oben“ und „Unten“ offenbaren – das Grab wird vom Himmel „bedeutet“, und der Himmel (bzw. der Gott der Natur) garantiert die Sinngebung des Todes.

Die symbolische Operation, welche die Synthese des „vertikalen Sinns“ bewirkt, wird archaisch durch Schamanen und Trickster durchgeführt. Ihr Zweck ist die Schaffung eines „Erlebnisbildes“, d.h. der Erfassung einer Ursituation, in der alle Wahrnehmungskoordinaten (die Weite der Steppe, die Höhe des Himmels usw.) symbolisch eingefasst und unicodiert sind. Wer „Heimat“ sagt oder „Nation“ sagt, ist bereits durch den Ritus eines unsichtbaren Schamanen hindurchgegangen, ohne sich dessen bewusst zu sein, denn „Heimat“ oder „Nation“ ist die Unicodierung von Zeit und Raum im Bild: das In-Eins-Fallen der Koordinaten und mit ihm das Eingehen in die Gruppe oder den Verbund der identisch Empfindenden.

Das Bild ist also nicht nur Illustration, sondern Generator der symbolischen Meute. Der Glaube an die Nation ist folglich Bilderglaube, d.h. der Glaube daran, dass die Bildsynthese von der diskreten Wirklichkeit kündet, jenseits von Generation und Geschichte.

Das Bild ist jenseitig. Die Empfindung ist diesseitig und stets bedacht, noch „mehr“ Bild zu empfinden, als „da“ ist. Das empfundene Bild, als gelebtes handelndes Bild, durch das Akteur und Symbol zur Aktionseinheit werden, kündet von der Pathologie des erfüllten Wunsches, der Sehnsucht nach dem „Mehr“.

 

(b) Der Mehraufwand

Warum ermorden 19jährige Jugendliche in einer türkischen Kleinstadt drei Mitarbeiter eines Bibelverlages, mit dem Motiv, dass das Türkentum beleidigt worden sei? Bei derartigen „nationalen“ Handlungen oder bei unvergleichlich harmloseren, wie z.B. dem Hissen einer Flagge, ist es gerade das Motiv, dass die Antwort auf das Warum verstellt. Das Motiv ist ideologisch begründet, aber worauf gründet sich die Ideologie? Es geht hier nicht um das Ziel des Tötens, des Hissens, des Zeigens usw., sondern um den Mehraufwand, der geleistet wird. Der Tod des Gegners ist nur ein Ausdruck der Akkumulation und des Überschusses von „nicht-produktiver Arbeitskraft“ – ein Surplus an Aktivität, das etwas „beweisen“ soll. Auf dieser symbolischen Ebene entspricht ein derartiger Mord einer „Investition in die Zukunft“ – die Zukunft der durch die Tat beschützten Meute. Man vergisst allzu leicht, dass Glaubenskrieger auch Unternehmer sind, die durch die Akkumulation von Sinnkapital und durch spekulative Investitionen die Bürgschaft über die Zukunft an sich reissen wollen. Derartige Unternehmer-Täter werden äußerlich verdammt und innerlich geheiligt. Sie sind Märtyrer im etymologisch prägnanten Sinne der Bezeugung (gr. martyrion = Zeugnis). Sie bezeugen ein „Mehr“, einen Kapitalüberschuss, der sinnvernichtend oder sinnerschaffend wirkt, je nach der Gestimmtheit der Meute.

Dieses Mehr, die Akkumulation des Sinnkapitals, auf das sich das Wir der Meute berufen kann, kann sich indes unterschiedlich äußern. Es muss sich nicht nur als Mord äußern. Das tut es sogar in den seltensten Fällen. Im Gegenteil: das Wir tritt einem mit freundlicher Visage entgegen, und es stuft derartige Morde im Namen des Wir als „extremistisch“ ein und verleugnet die topologiche Verwandtschaft des Radikalen mit dem Mediokren, des religiösen Avantgardisten mit der spießbürgerlichen Ignoranz. Das jedoch, was den Glaubenskrieger antreibt, ihn zur Tat stiftet, wirkt auch in harmlosem Gewand.

 

(c) Der ewige Mord

Der ideologische Mord – hate crime –, der topologische Ähnlichkeit zum Hissen einer Fahne besitzt, kommt nirgends in der Natur vor. Die Gesten und Bewegungen, die ihm zugrunde liegen, sind unnatürlichen Ursprungs, d.h. sie abstrahieren vom ewigen Naturkreislauf, der, wie Hannah Arendt in Vita Activa betont, keinen Tod und keine Geburt kennt, sondern nur die ewige Erneuerung des Lebensprozesses, das (potenziell) ewige Vergehen und Entstehen der Dinge. Beim Verkehrsunfall zu Tode zu kommen oder von einer Flutkatastrophe heimgesucht zu werden sind Inzidente, die den natürlichen Zufallslauf der Dinge bezeugen: „Unfall“.

Der pathologische Glaubenskrieger und seine Mordtat werden hingegen nicht im Zusammenhang des natürlichen Werdens und Vergehens aller Dinge verstanden (auch wenn man derartige Taten oftmals als „bestialisch“ bezeichnet), sondern als Bezeugung eines Willens – womit der Kraftüberschuss gemeint ist, der in die Tat „investiert“ wird. Sobald Natur ausgeschlossen wird, spricht das Recht von „Mord“ und „Vorsatz“.

Diese Sphäre, welche die Natur ausschließt, ist wiederum traditionell als „Kultur“ bezeichnet worden, in der sich die willensbestimmte Subjektivität (z.B als transzendentales Ich) konstituierte. In dieser Sphäre, in der das ewige Vergehen-Entstehen ausgeschlossen ist, und die stattdessen mit Begriffen wie „Geburt“, „Leben“ oder „Tod“, also existenziellen Begriffen, operiert, machen also derartige Taten überhaupt Sinn. Fanatiker sind also durchaus sinnvoll, da ihre Taten den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen unterbrechen und eine Zäsur in die „ewige Widerkunft des Gleichen“ einprägen.

Ich erwähne dies übrigens in dem Bewusstsein, dass bisher durchaus auch (Kultur-)Modelle entworfen wurden, in denen massenhaftes Morden als Teil des Naturkreislaufs definiert worden ist. Dies gilt etwa spezifisch im „Dritten Reich“ im biopolitischen Sinne einer „natürlichen“ Aussonderung des Lebensunwerten oder generell im Kriegsfall, in dem Tode als „notwendige Übel“ oder als „Kollateralschaden“ – d.h. als Natur – interpretiert werden. Und eben in diesen Fällen – Konzentrationsorten der Natur, an denen mittels Kultur Natur inszeniert wird – wird die Figur des ewigen Mordes sichtbar, d.h. einer Synthese aus der ewigen Erneuerung der Natur und der begrenzenden Sphäre der Kultur, die das Sinnkapital einer Meute sicherstellen soll.

Insofern erscheint es logisch, dass etwa die meisten Hate Crimes ein natürliches Vergehen inszenieren – die Mordopfer werden in der Regel verstümmelt –, und ebenso „logisch“ ist es, dass wiederum „natürliche“ Triebtäter ihre blutigen Obsessionen regelrecht als Kulturfeste zelebrieren – bis hin zu kannibalistischen Ritualen im netten Eigenheim wie etwa bei einem Herrn Dahmer.

 

(d) Meuten fressen Meuten

Während der Triebtäter also keine Meute im Rücken hat, sondern nur Natur, glaubt sich der Glaubenskrieger von einem ihm stützenden Verbund gesichert. Er versteht sich als biopolitisches Werkzeug, welches seine Meute „rein“ erhalten soll, wie etwa im Mordfall Teena Brandon im US-amerikanischen Mittleren Westen Anfang der 1990er Jahre, bei dem die von ihren männlichen Kollegen entlarvte „wahre“ sexuelle Identität von „Brandon Teena“ zu ihrer Vergewaltigung und Ermordung führte. Die zwei jugendlichen Mörder handelten offensichtlich nicht im Affekt, sondern aus der Warte des verletzten männlichen Stolzes, welche die Meute der Männer implizit zu rächen forderte. Männlicher Stolz verweist zugleich auf die Meute, in deren Namen die Tat geschieht. Dies ist es, was hinter Sätzen wie: „Ich musste es einfach tun“ steckt, und dies ist es, was hinter der Auffassung steckt, man habe (bzw. hatte) sich nicht unter Kontrolle, obwohl man sich vollständig unter Kontrolle hatte. Die öffentliche Meinung spricht schnell von der „Selbstlüge“ als Schutz des Täters vor der Realität seiner Tat. Ich denke jedoch, dass man wirklich das „falsche“ Gefühl haben kann, man habe sich nicht unter Kontrolle, wenn das Ich im Auftrag einer Ich-Meute handelt, die die Kontrolle übernimmt. „Prozessrechtlich“ wird dieser Aspekt unter dem Hinweis auf die Sozialisierung des Täters abgehandelt, d.h. seine Prägung durch verschiedene Meuten (Familie, Schule, Beruf usw.).

Dieser „höhere Auftrag“, der sich im Akt manifestiert und vorher nur als „kultureller Infinitiv“ oder als „Grammatik“ existent war, ist es nun, der die Meutenverbindlichkeit, von der oben die Rede war, bestimmt. Der Akt (z.B. Mord, Geste, Rede, Ausspruch usw.) bezeugt und aktualisiert den Auftrag. Das Glaubensparadigma besteht hier in der Hingabe und der Akkumulation des Sinnkapitals (z.B. durch Sozialisation), d.h. durch das Martyrium der Tat, die willentlich geschieht – also kulturell definiert ist – und zugleich die natürliche Ewigkeit suggeriert, da sie als notwendige Funktion verstanden und durchgeführt wird.

Heutige Nationalstaaten haben sich der pathetischen oder martialischen Funktionsweise des Martyriums in der Regel entledigt. Freilich gibt es Ausnahmen wie etwa weltweit stationierte US-Gefangenenlager, die als nationale Monumente einer nie zu stillenden Rache fungieren. Denn hier werden nicht die Insassen als leidend empfunden, sondern im Lager wird das nationale Leid „9/11“ zur Offenbarung, zur Bezeugung der nationalen Demütigung.






Kurzum: Hinter den Konzepten „Volk“, „Nation“, „Kultur“, „Religion“ usw. ist immer das Meutenbewusstsein zu denken und die Verbindlichkeit, die die symbolischen Verbünde aufrecht erhält. „Extremisten“ und „Fanatiker“ sind keineswegs ausgesonderte Sonderlinge von ansonsten friedliebenden Glaubenssystemen, sondern im Gegenteil deren ureigenste Sinnstifter, so wie auch Robbespierre – oder besser gesagt: das „Prinzip“ Robespierre – die Grundprozedur der Demokratie exemplifiziert: der Jakobinismus verstellt mit seinem „Terreur“ den Zugang zur absoluten Macht. Er enthauptet Usurpatoren und wird dadurch zugleich zur höchsten kollektiven Ausformung des Usurpators (=Demokratie als absolutistische Diktatur des Volkes), indem er die (im hegelschen Sinne) Aufhebung der Revolution bewirkt. Am Anfang der Demokratie steht ihr Untergang, und in der analogen Weise benötigt die Glaubensgemeinschaft fanatische Sonderlinge – „Terroristen“ –, die sie öffentlich als „glaubensfern“ aussondert. Man distanziert sich heute also von islamischen Terroristen, RAF und/oder Jakobinern, um seine demokratische Gesinnung kund zu tun, vergisst aber die demokratische Grundprozedur – die radikale Volksbewegung des Umsturzes bestehender Verhältnisse.

Der Nationalismus beschreibt nun genau diese Sphäre, in der der ursprüngliche Antagonismus von Umsturz und Anspruch völlig von primordialen und überzeitlichen Werten überschattet wird. Der Nationalist glaubt an die Widerspruchslosigkeit seiner Vorstellung. Er kann sich als fanatischer „Radikaler“ oder als friedliebender Demokrat verkleiden, als Rechter oder als Linker. Aber in tolerantem Gewand ist er viel schwerer auszumachen.                       || Zoran Terzic 2007 @ www.unkirche.de



Nation = Metaphysik des Gefühls = Exzess der Bedeutung