mimicry (2010) __

the shaman (2009) __

sieg und niederlage (2008-10) __

expansion der gegenwart (2009) __

brigade joussance (2004) __

spaßkulturen (1997) __

international fuel crisis (2007-2010) __

kunst des nationalismus (2006) __

unkirche (2007) __

widerlegung der unterhaltung (1998) __

traktat über die schlange (1998) __

turns (2001-2009)

Zoran Terzic

Traktat über die Schlange (1997)


Jegliches Warten ist geprägt von der Zeitwahrnehmung innerhalb eines Kulturraums. Ist die Vorstellung von Pünktlichkeit eine vage, entstehen keine zeitlichen oder räumlichen Verdichtungen, wie z.B. beim Fall eines Ostasiaten, der sein Verspäten dadurch erklärt, daß er, wäre er pünktlich gekommen, im Falle einer Unpünktlichkeit seines Terminpartners diesen in eine unangenehme Situation gebracht hätte. Ethische Pünktlichkeit steht neben, über und unter einer objektiv temporalen Ausrichtung. Der westliche Kulturraum steht im Verdacht, den Termin an sich als eine Art Eidos zu betrachten und die ethische Tiefenstrukturvon Zeit zugunsten einer funktionalistischen, apparatischen Verkürzung zu vernachlässigen.

Gebote wie Vorhersagbarkeit, Effizienz, Quantifizierung und Kontrolle (Ritzer, 1993) waren ursprünglich Antriebe ökonomischer Rationalisierung, die zur zeitlichen „Punktualisierung“ und Beschleunigung führten. Die Irrationalität der Rationalisierung liegt darin, daß in ihrer Vermittlung Beschleunigung zur Verlangsamung, Pünktlichkeit zur Unpünktlichkeit, Vorhersehbarkeit zur Unvorhersehbarkeit wird.

Eine Dienstleistung ist „unpünktlich“, wenn man auf sie warten muß. Sie wird effizienter, wenn man auf das Warten Rücksicht nimmt, wenn man das Warten wartet.

Anthropologen, Soziologen, Psychologen, Ökonomen und Mathematiker haben erst in den letzten 20 Jahren diesen Bereich als alltagsrelevant erkannt.

Die Warteschlange ist eine Erfindung der Engländer während des ersten Weltkrieges, als es um die effiziente Organisation des öffentlichen Raumes ging. Vorher stellte man sich hin, wenn man etwas wollte. Seither stellt man sich an. Das Anstellen wurde vorbildhaft, ob aus Not oder aus Gewohnheit.





1. Warteschlangen bedeuten kulturelles Warten.


    1.1.    Kulturelles Warten bildet Wartesysteme.


    1.1.1.    Ein Wartesystem besteht aus vier Komponenten:






                    a) Ankunft

                    b) Schlange

                    c) Attraktor

                    d) Ausgang


    1.1.2.    Die Ankunft kann mathematisch mit Hilfe der

Poisson-Verteilung beschrieben werden.

Dies gilt insbesondere für Ankunftsverhalten,

welches variabel oder zufällig auftritt.


    1.1.3.    Das Ankunftverhalten kann auch psychologisch

beschrieben werden. Ein Gesichtspunkt ist die

Ungeduld. Es gibt hierbei zwei Klassen von

ungeduldigen Ankömmlingen: 

a) Die Einen erreichen den Schauplatz,

überblicken die Lage, betrachten die

Schlange und entscheiden, den Ort wieder

zu verlassen. Dieses Verhalten nennt man balking.

b) Die Anderen erreichen den Schauplatz, stellen

sich an, entscheiden aber nach einer Weile zu

gehen. Dies nennt man reneging.


    1.2.Man unterscheidet zwischen dem Anstehen 

aus Not und dem Anstehen aus Überzeugung oder

Duldung.


    1.3.    Warteschlangen können funktionell auf folgende

Weise unterschieden und dargestellt werden:




(Fig.1) zeigt die einfachste Kombination von

Schlange (o o o) und Server ( <  ).

(Fig.2) wird als Multi Server Queue bezeichnet und

ist in Europa der meistverbreitete Wartetypus.






(Fig.3) zeigt die amerikanische Version, welche

zwar gerechter ist, aber die subjektiv geschätzte

Wartezeit aufgrund der Schlangenlänge

vergrößert.

(Fig.4) und (Fig.5) sind Versionen, die Subsysteme

einführen, um die Schlange zu verteilen oder den

Service zu rationalisieren.


2. Der Attraktor (A) ist der Ereignisort, auf den das Warten gerichtet ist.


    2.1. Warten ohne Intention ist der sogenannte

Leerlauf. Dieser meint das Funktionieren ohne

Absicht. Das heutige Primat des Funktionalismus

vor dem Intentionalismus beruht auf dem Primat

des erklärenden Wissens vor dem verstehenden.


3. Warteschlangen besitzen unterschiedliche Strukturen


    3.1. Diese Strukturen sind folgendermaßen

darstellbar, wobei 


A:  Einlaß, Kasse, strukturelle Verengung

H:  Ereignisort, Tor, weiter Durchgang


als Attraktoren dargestellt sind.






        3.1.1.Der Andrang (Fig.1) bezeichnet eine offensive

Wartestruktur. Hier werden Wartekonkurrenten

ignoriert und allein das Ziel (A) ins Auge gefaßt.

Beispiele: Bushaltestelle, Bahnhof, Schlußverkauf

        3.1.2.Die lineare Wartereihe (Fig.2) hat als Ziel oder

als Grund die Individualisierung der Teilnehmer.

Beispiele: Gefängnis, Sportunterricht, Toiletten

        3.1.3.Die dialogische Wartereihe (Fig.3) bildet das

gemeinsame Warten. Durch Beziehung und

Gespräch wird am Warten des oder der anderen

teilgenommen. 

Beispiele: Flughafen, Kino- und Theaterbesuch


        3.1.3.Wartekreis (Fig.4) und Wartenetz (Fig.5)

bezeichnen simultane Strukturen, bei der die

lineare Reihenfolge nicht ersichtlich ist.

Beispiele: Wartezimmer, Telefonwarteschleife


        3.1.4.Die offene Struktur (Fig.6) ist durch das Warten

auf ein bestimmtes Ereignis gekennzeichnet.

Die Wartenden stömen durch weite Eingänge

auf einen zentralen Platz (agora).

Bei dieser und z.T. bei den anderen Strukturen ist

der Attraktor (z.B. Band, Politiker, etc.) beweglich.

Beispiele: Kundgebung, Konzert, Versammlung



    


     






4. Warteschlangen verfügen über interne Regeln.


    4.1.Die Schlange strebt nach unbedingter

Einhaltung ihrer Formation durch Orientierung

des Einzelnen am Vordermann.


    4.2.Die Verantwortung für die Formation besitzt

stets der Vordermann.


        4.2.1.Bricht ein Drängler die Reihenfolge, so ist der

unmittelbar Betroffene in der Schlange für die

Störung zur Verantwortung zu ziehen.

Er verfügt über die Entscheidungsgewalt der

hinter ihm Stehenden. Versuchten Andere die

Situation zu klären, müßten sie ihren

Platz in der Schlange verlassen. Dies widerspricht

jedoch Punkt 4.1.


    4.4.Die Formation  der Schlange überwindet

Hindernisse durch den geringstmöglichen

Umweg. Dies erhellt aus 4.1.


    4.5.Der Abstand zum Vorderen ist in seinem

Minimum von der „Sphäre“ des Persönlichen, in

seinem Maximum von der Vermeidung einer

„Lücke“ bestimmt.



5. Das Verhältnis der aktuellen, tatsächlichen Wartezeit

zur empfundenen bestimmt die Effizienz des Wartesystems.


    5.1.Die Empfindung der Dauer wird durch

8  Propositionen bestimmt (nach D.Maister):


        5.1.1.Die Proposition der erfüllten Zeit.

Das mit (intentionalem) Ereignis erfüllte Warten

„vergeht“ schneller als nicht erfülltes..


        5.1.2.Die Proposition des Währenddessen

Präprozessuales Warten dauert länger als im

Prozess befindliches, d.h. der Wartende sieht im

Warten sein Anliegen unbearbeitet oder

bearbeitet.


        5.1.3.Die Proposition der Enge/ Angst

Nie enden wollende Augenblicke werden in

Angstsituationen empfunden.

Von Erdbebenopfern weiß man zum Beispiel, daß

sie die Dauer des Bebens oft überschätzen.


        5.1.4.Die Proposition des Ungewissen

Eine nicht abzuschätzende Situation verlängert

die subjektive Wartezeit. Das Warten ohne

Erwartung sucht nach Zeichen der Befreiung.

       

        5.1.5.Die Proposition der Erklärung

Nicht erklärte Wartezeiten dauern länger als

erklärte. Das Wissen von Umständen erleichtert

das Warten.


        5.1.6.Die Proposition des Ungerechten

Ungerechtes, fremdverschuldetes Warten

erscheint länger als gerechtes.

Der Ärger über das Unrecht läßt Einen die

ungerechte Zeit gleichsam als Schuldnachweis

„einsammeln“.


        5.1.7.Die Proposition der Wichtigkeit

Das Warten hat immer einen Grund. Hier liegt er

in der Wichtigkeit oder Qualität des Attraktors

(z.B. Arzt). Umgekehrt erscheint das Warten

länger, wenn Autorität des Attraktors nicht

zugegeben wird.


        5.1.8.Die Proposition des einsamen Wartens

In der Gruppe vergeht die Zeit schneller.

(Hier liegt eine Strategie, die die Schlange auflöst

und sie in ein Theater umwandelt:

Das Anbringen einer Infotafel, bzw. eines

Monitors ändert die Warte- und Blickrichtung um

90o Grad. Das Gefühl des Nebeneinanderstehens

löst das Hintereinander der Wartereihe ab.)


        5.1.9.Aus den Propositionen lassen sich etwa für das

Operations Management einige Grundregeln für

die Handhabung von Wartesystemen bestimmen.


a) Festsetztung einer maximalen Wartezeit als

Erwartungshorizont, die von der aktuellen stets

unterboten werden muß. 

b) das Out of line - Prinzip (siehe 5.1.8.1.)

c) das Out of view - Prinzip bedeutet, sämtliche

Mitarbeiter eines Dienstleistungsunternehmens,

die nicht aktiv am Service teilnehmen aus dem

Blick der Wartenden zu nehmen. (5.1.6.) und

(5.2.1.)


    5.2.Die Wartehaltung und Stimmung beeinflußen

den Qualitätseindruck vom Attraktor.


        5.2.1.Jeder Wartende in einer Schlange sucht apriori

nach dem Verantwortlichen für das Warten.


    5.3.Je kürzer die faktische Wartezeit, desto

ungenauer die Schätzung darüber.



6. Die Wahrnehmung in der Zeit begründet die Zeitwahrnehmung.


    6.1. Zeitwahrnehmungen verschiedener Epochen

führen zu spezifischen Vorstellungen.


                    


a) zyklische Struktur eines vorindustriellen

Zeitalters (Warten heißt hier Gedulden)






b) finale Struktur (A) eines religiösen Zeitalters

und die lineare Struktur (B) zeitlicher Vorstellung

seit der Neuzeit (Warten heißt hier Hoffen)





c) funktionale Struktur (A) eines gegenwärtigen

und phänomenale (B) eines nachgeschichtlichen

Zeitalters (Warten heißt hier Erdulden)


        6.1.1.Die Psychodynamik des Leerlaufs ist eine Folge

leerer Erwartung in der Handlungsbeziehung zu

Apparatstrukturen.


       6.1.2.Das intrapsychische Erleben entspricht der

phänomenalen Struktur (siehe oben), ist also dem

kausalen Zeitpfeil (lineare Struktur seit der

Neuzeit) entgegengesetzt und widersprechend.


       6.1.3.Die Qual des Wartens wird von diesem

Widerspruch erzeugt. Die Gewohnheit des

Wartens ist das Funktionieren innerhalb des

Widerspruchs durch Wiederholung.



  1. 7.        Die Schlange wartet stets auf den Letzten.








Literaturhinweise:


Bergson, Henry; Zeit und Freiheit

Chebat, Filiatrault and Gelinas-Chebat; Impact of Waiting Attribution and

Consumers Mood on Perceived Quality, Journal of Business Research 34, 1995

Flusser, Vilem; Nachgeschichte, Ed.Bollmann 1996

Gladwell, Malcolm; You Are How You Wait: Queue Psychology,

International Herald Tribune, 17.12.92

Husserl, Edmund; Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins

Jones and Peppiatt; Managing Perceptions of Waiting Times in Service

Queues, International Journal of Service Industry Management, Vol.7, 1996

Maister, David H.; The Psychology of Waiting Lines, The Service Encounter,

D.C.Heath, 1985

Marquard, Odo; Zeit und Endlichkeit, Vortrag, ca. 1989

Seemann, Hans-Jürgen; Zur Typologie des Wartens, Psychologie Heute, 7/88

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http://www.mngt.waikato.ac.nz/depts/mnss/courses/376/waitline/queue.html


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