mimicry (2010) __
the shaman (2009) __
sieg und niederlage (2008-10) __
expansion der gegenwart (2009) __
brigade joussance (2004) __
spaßkulturen (1997) __
international fuel crisis (2007-2010) __
kunst des nationalismus (2006) __
unkirche (2007) __
widerlegung der unterhaltung (1998) __
traktat über die schlange (1998) __
turns (2001-2009)
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Redemanuskript einer Vorlesung am 14.1.2008 am IFK, Wien.
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1.Triumphparadigma
Vom mittelalterlichen Köpfen des Feindes, Siegesparaden, Triumphbögen,
Wahlkämpfen, Finanzkarrieren, Arbeitskämpfen bis hin zu heutigen Verliergruppen
der Gesellschaft – stets begleiten den Tatbestand von Sieg und Niederlage
eindeutige Gesten und Zeichen (wie etwa das „Victory“-Zeichen oder das erhobene
Haupt).
Meine These lautet, dass das kulturelle Vokabular des Zeigens größtenteils aus dem
Fundus des Krieges stammt und dass die Enkulturierung vor allem in heutigen
kapitalistischen Gesellschaften permanent neue Sieger- und Verlierertypen
produziert, die als Bestandteil eines „Sinnkapitals“ innerhalb des öffentlichen
Diskurses zirkulieren und als Ersatzmarker der Souveränität fungieren.
Dies ist nichts Neues. Spätestens seit Spencer, Marx und Nietzsche, und später
Foucault ist der gesellschaftliche Antagonismus prägend für die Theoriebildung, wie
sie von herrschaftsgläubiger Seite die bellizistische Tradition immer wieder
einfordert.
Seit Jean Bodin orientiert sich die Vorstellung von Souveränität an der
Entscheidungsgewalt und an der Fähigkeit, für Konsequenzen zu sorgen. Die
historische Idealkonsequenz ist natürlich der militärische Sieg, der auf richtigen
Entscheidungen beruhte. Aber man kann diese Logik auch auf die Ökonomie oder
andere Bereiche der Gegenwart übertragen, um mehr über das Vokabular der
Zeichen zu erfahren, die Siege und Niederlagen gesellschaftlich erzeugen.
Ich nenne diesen thematischen Gesamtkomplex: Triumphparadigma.
Roland Barthes zufolge ist ein Paradigma "die Opposition zweier virtueller Terme,
von denen ich einen aktualisiere, (...) wenn ich Sinn erzeugen will."
Analog verstehe ich Triumphparadigma als ein semiotisches Feld, in dem entweder
ein Sieg oder eine Niederlage Sinn erzeugen. Dies kann z.B.
ein politisches Feld sein (Stichwort: Wahlkampf),
ein kulturelles Feld (Stichwort: Sport),
ein Wissensfeld (Stichwort: Beweis/Widerlegung),
die Ökonomie (Stichwort: Erfolg/Pleite),
ein biographisches Feld (Stichwort: Karriere/Scheitern) oder
ein ethisches Feld(Stichwort: Gut versus Böse).
Meine Untersuchung bezieht sich auf die Erscheinungsweisen des
Triumphparadigmas, d.h. auf dessen "Bilder" und "Gesten". Ich trenne die
Erscheinungsweise nicht von der Wirkungsweise, daher spreche ich von politischer
Phänomenologie oder auch konkret vom Triumph des Zeigens.
Bildevidenz hat stets mit der Bemächtigung einer Anschauung über eine andere
Anschauung zu tun. Da Macht aber nach Foucault nicht besessen, sondern ausgeübt
wird, ist sie auch nicht darstellbar – nur Sieg und Niederlage sind darstellbar.
"Bild" ist hier deshalb eine Metapher für das Nichtdarstellbare – für den Willen zur
Macht (Nietzsche). Dieses Nichtdarstellbare ist wiederum an das positive oder
negative Triumpherlebnis gekoppelt.
Vokabular des Zeigens
"Bild"
--------------------------------------------Unterwelt----------------------------------------
"Sinn"
"Bedeutung von..." = "Macht über..."
Gottfried Böhm oder Dieter Mersch beziehen sich ebenfalls auf diese
Nietzscheanische "Unterwelt" der Bilder, wenn sie zwischen dem, was gezeigt wird,
und dem, was sich zeigt, unterscheiden. Gezeigt wird z.B. eine Karikatur, aber es
zeigt sich ein Angriff auf ein Blickregime (z.B. ein religiöses oder ethisches). Ein
unterirdischer Kampf bricht aus, der an ungeahnten Stellen an die Oberfläche tritt.
– Der Medien-Fall Maddie und eine Titanic-Satire (bildgläubige Fundamentalisten =
brave englische Demokraten attackieren das Satiremagazin Titanic) – Man streitet
nicht über das, was man sich vorwirft.
Vokabular des Zeigens (siehe oben)
"Maddie"
--------------------------------------------Unterwelt----------------------------------------
"Aneignung des Bildes"
Bedeutung von: „Verunglimpfung" = Macht über: „Bildhoheit“
Es geht bei der Analyse dieser Phänomene um das richtige Auge für die Macht, die
nie besessen, sondern stets ausgeübt wird. Das, was man aber besitzt und was man
dem andern zeigt oder eben verwehrt, ist das Bild, in dem sich eine triumphale
Geste offenbart, der man erliegt oder eben widersteht.
Um ein historisches Beispiel zu verwenden: Schon in der Antike herrscht der Tyrann
mittels des von Ernst Kantorowicz so bezeichneten corpus imaginatum.
Er wirft sich in Schale, wie man ein Bild einrahmt. So lässt Caligula um 40 n. Ch.
Schaufeldzüge nach Germanien und Britannien durchführen, ohne dass ein Tropfen
Blut fließt. An der Küste des Ärmelkanals lässt er u.a. prächtige Muscheln
einsammeln, um eine reiche Kriegsbeute vorzutäuschen. Der Sieg muss sich zeigen
lassen, damit er sich sehen lassen kann. Caligulas Schaufeldzüge sind Vorläufer der
Fotographie, denn sie belichten die Natur der Herrschaft auf das Dianegativ der
Geschichtsschreibung.
Giorgio Agamben beschreibt diesen Bildanspruch des Imperators in seiner Analyse
des römischen Grammatikers Varro. Es geht bei Varro um den Unterschied von
Hervorbringen und Handeln (facere / agere). Während der Dichter ein Drama
hervorbringt, ohne es auszuführen, führt es der Schauspieler aus, ohne es
hervorgebracht zu haben. Der Imperator hingegen bringt weder hervor noch führt er
aus, sondern er übernimmt, nimmt auf sich und trägt – kurz: er zeigt. Und je mehr
er zeigt, umso monströser wirkt die Trinität von Volk, Reich und Führer.
Caligula markiert also genau diese Monstranz der Demonstranz (als furor principum)
wie sie sie später Walter Benjamin als faschistische "Ästhetisierung der Politik" zu
Unrecht spezifizieren wird.
Denn auch in unserem demokratischen Zeitalter markieren ganz analog
amerikanische Astronauten das Landen auf dem Mond und russische
Expeditionstruppen das Erreichen des arktischen Meeresbodens mit ihren
Nationalflaggen, als ob sie Land siegreich erobert hätten, das es zu besiedeln gilt.
Dies sind moderne Schaufeldzüge, ebenfalls ohne Tote. Die Bilder unterscheiden
sich, die Gesten gleichen sich, Triumphgesten, welche die Zeit in den Raum bannen.
Denn so wie in Galerien die Gemälde und im Kolloseum die Löwen, so schreiben sich
die Besetzungen der Territorien bildhaft in die Institutionen der Geschichte.
Foucault nennt dies die Historie des römischen Typs. Ich nenne das einfach den
Triumph des Zeigens und meine damit den Herrschaftsmechanismus, der festlegt,
was in den Vordergrund der großen Erzählungen genommen, und was im
Bildhintergrund bleibt oder ignoriert wird.
Viele Diplomaten sprechen z.B. heute von der tausendjährigen Kultur ihres Landes,
eine Zeitspanne, auf die man national stolz ist. Zurückzublicken ist politisch korrekt.
Wenn aber jemand sagt, die nächsten 1000 Jahre gehören uns, denkt jeder sofort
an Hitler, obwohl dies genauso konstruiert ist wie der Blick zurück. – Vorsorglich
besteht die russische Fahne aus einer Titanlegierung, die mindestens eine Ewigkeit
überdauern soll.
Diese spezifisch nationale Aneignung des geschichtlichen Raums werde ich später
besprechen. Mir geht es nur darum, zu zeigen, dass Triumphgesten sowohl
historisch als auch alltäglich sind, und dass sie sich einschreiben in unsere
Vorstellungen, bezüglich dessen, was gut oder politisch korrekt ist. Es geht bei
diesem Zeigen darum, uns an die unumstößliche Kontinuität der Macht zu binden
("Naturwüchsigkeit") und uns zugleich damit zu faszinieren: „Das Licht des Gesetzes
und der Glanz des Ruhmes“, wie Foucault formuliert. Dies erklärt vielleicht, warum
Russen und Amerikaner ihre Fahnen in Planeten rammen.
2. Typologie
Es gibt eindeutige Insignien des Triumphes: das unbewusste Hochreißen der Arme
etwa oder die geballte Faust. Die Möglichkeit dazu ist in den meisten Fällen
angeboren.
Schon Babys können etwa den "Stinkefinger" zeigen, was mit der physiologischen
Konstitution der Hand zu tun hat (der Ringfinger lässt sich z.B. nur schwer
unabhängig spreizen). Auch die so genannte Hörnergeste ist angeboren, bei der
Zeigefinger und der kleine Finger gespreizt werden.
In der Sozialisation und auch kulturgeschichtlich werden diese Dispositionen zu
einem symbolischen Vokabular ausgeweitet. Es ist in der Kulturgeschichte des
Menschen ganz logisch: Je weniger äußere Instrumente er zur Verfügung hat, desto
mehr ist er auf Körpergesten verwiesen. Der Mensch ist nach Vilem Flusser eine
kommunikologische Existenz, es ist für ihn konstitutiv, seine Absichten zu äußern,
und zwar in einer zielgerichteten Weise, die ihn von anderen Tieren unterscheidet.
Insofern enthält die Kulturgeschichte auch eine Entwicklung des gestischen
Vokabulars.
Studien über das gestische Vokabular des Körpers eröffnen etwa die
Herkunftsgeschichte der Hörnergeste, welche körperlich das Tierschema imitiert und
später über den Körper hinaus verweist. In ihr vermischen sich verschiedene
Überlieferungen:
Zeus Ammon wird oftmals mit den gewundenen Hörnern eines Widders dargestellt.
Und Moses hat in traditionellen Abbildungen üblicherweise ein strahlenumkränztes
Haupt. Der Heilige Hieronymus übertrug dies in seiner lateinischen Bibelübersetzung
in das Bild eines hörnertragenden Moses, was zu zahlreichen Folgedarstellungen in
Mittelalter und Renaissance führte. Später trugen auch Könige als
Herrschaftszeichen die corona: eine Verbindung von Hörnerhelm und Strahlenkranz,
wobei corona (Krone) und corna (Horn) auch etymologisch verwandt sind. (Siehe:
Krüger, Reinhard : Etymologien von Gesten, 1999;
http://www.fortunecity.de/lindenpark/schwitters/149/corna002.html)
Aus einer gestischen Präkonfiguration entwickeln sich kulturhistorisch mannigfaltige Bedeutungs- und Gebrauchsebenen. Die Hörnergeste repräsentiert zunächst die göttliche dann die weltliche Macht, dient als Grußgeste, Segnungsgeste, Spottgeste (der "Gehörnte") usw.
Für mich ist jedoch entscheidend, in ihr eine ursprüngliche triumphale Absicht zu
erkennen, die anfangs die Trophäe des enthörnten Tieres dargestellt haben musste. Viel später und deutlicher steht das triumphale Hochreißen der Arme im Sinne dieser Tradition, was auch einen Horncharakter hat - ebenso wie das Victory-Zeichen.
Diese Anfangsgesten wie auch das populäre Hochreißen beider Arme sind also eine phylogenetische Weiterentwicklung der „Hörnergeste“. Wie R. Krüger schreibt, ist
[d]ie Nachbildung der Hörner durch die erhobenen Arme [...] nur eine spätere
Entwicklung aus archaischerem Körperverhalten, das seinerseits bis weit über das
Tier-Mensch-Übergangsfeld hinaus in die nicht-hominiden Lebensformen (und deren
Kulturen) zurückverfolgt werden kann.“ (Krüger, a.a.O. 1999)
Die horizontale Horngeste, die es ja auch bei Rappern gibt, entspricht dem Sinn des Gehörntseins, die Hörner werden in das Hinterteil gespießt sozusagen, sie stacheln einen an. Das ist eine Verschiebung vom Zeichen des Sieges zu einer Geste der Vertreibung. Wenn man die Geste nach oben richtet, gibt es niemanden, der einem im Weg ist, alles was nach oben zeigt, ist eine Art metaphysische Befreiung – ein
Sieg.
Kehrt man die Siegesgeste (die „Hörner“) um, erkennt man ein anderes Vokabular.
Für mich sind dann auch traditionelle Triumphbogen umgekehrte Hörnergesten, bei
denen die Hörner sozusagen in das eroberte Territorium, gerammt werden. Im
Triumphbogen erkennt man so mittels der topologischen Transformation eine
umgekehrte Hörnerform.
Aus der Dreigliedrigkeit mancher Triumphbögen (links) lassen sich wiederum
formale Insignien von Zeremonien rückübersetzen (rechts).
Unmittelbare Siege haben etwas turbulentes und formloses. Gefeierte Siege, wie
Triumphzüge oder Medaillenzeremonien im Sport haben immer etwas
symmetrisches. Der Kontrast zu Niederlagen, die im Grunde nicht gesehen, gezeigt
Denken wir an die heutige Zivilwelt, so haben wir beim Stichwort von Sieg und
Niederlage vor allem den Sport im Sinn, der als kulturelles Analogon des Krieges
gesehen werden kann.
Seit der Französischen Revolution und bis heute fungiert Krieg nicht mehr als
Fortführung der Politik sondern als Ausnahme. Damals entsteht die Differenz von
expliziten und impliziten Kriegen. Explizite Kriege sind erklärte Kriege, implizite
Kriege sind das, was später mit der Metapher des Kampfes umschrieben werden
wird, in Form des Klassen- oder Rassenkampfes, des Machtkampfes, des Kampfes
der Geschlechter, des Arbeitskampfes oder Wahlkampfes. Der Kampf wird zu
Strukturmerkmal der Gesellschaften und der Krieg wird zum Ausnahmefall. Deshalb
hat etwa Bazon Brocks Gleichsetzung von Kultur und Krieg bzw. Kunst und Krieg
etwas Anrüchiges aber dennoch Korrektes.
Der Sport als zweckfreier Agon der Kultursphäre, wie er für Julius Burkhardt schon
das Wesen der griechischen Antike bestimmt, scheint hiervon ausgenommen, denn
er trägt seinen Zweck in sich. Aber wie schon die Studien zum Homo Ludens zeigten,
lassen sich zweckfreie und zweckhafte Gründe in der Geschichte nicht voneinander
trennen. Was als spielhafte Imagination begann, endet in Politik.
Insofern möchte ich im Folgenden historische Narrative zu den bildhaften Siegesund
Verlustgesten in Bezug setzen.
3. Historisches und ontologisches Triumphparadigma
In historischer Hinsicht gilt es vor allem die Nation als Medium des Sieges
hervorzuheben. Warum?
Erstens ist der Nationalismus der triumphale modus operandi der gegenwärtigen
Staatenordnung, ob man ihn nun als toleranten Patriotismus, liberal-demokratische
Friedensmultikultur oder als Kriegsnationalismus begreift.
Die Beflaggungen des Nationalen, wie Michael Billig das banale alltägliche Eindringen
und Ausstellen nationaler Attribute und Kulturmerkmale bezeichnet, sind das längst
als weltoffen empfundene politische Tagesgeschäft nationaler Identitätspolitik (von
der Wetterkarte, die Landesumrisse zeigt bis zur Sprachpolitik oder Integrationsdebatte).
Zweitens hat die historische Konzeption der Nation als solche mit dem
Triumphparadigma zu tun, denn ohne die Poetik des Sieges gäbe es keine
Kulturnationen. Wie wird der Siegesanspruch nun begründet?
Ich unterscheide hier drei Bilder:
Historischer Triumph
(1) Aufstand (z.B. Revolten gegen Fremdherrschaft)
(2) Gründung (z.B. historische Kundgebungen und Zeremonien)
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(3) Kulmination: Schlacht (z.B. heroische Siege oder Niederlagen)
Die erste Idee des Aufstands ist reaktiv: es muss einen Feind geben, gegen den
man sich erhebt. Ich denke hier z.B. an den italienischen Aufstand von Genua von
1746, der durch einen in vielen Gemälden dargestellten Steinwurf des Knaben Balilla
zur Vetreibung der österreichischen Besatzer aus der Stadt führte und später als
populäres Leitbild nationalen Widerstands diente. (Über den Link zu Mussolinis
Jugendorganisation Balilla landen wir bei der hieran anknüpfenden Gründung der
Hitlerjugend)
Die zweite Idee der Gründung ist affirmativ: man postuliert sich durch politische
oder religiöse Gründungsakte. Ich denke hier an den Ballhausschwur von 1789, der
vom Maler Jacques-Louis David als Allegorie der gesamten französischen Revolution
überhöht wird.
Die dritte Idee der Schlacht ist die Synthese von Gründungsakt und Aufstand und
bezeichnet immer ein Kulminationserlebnis, in dem beide Optionen enthalten sind.
Die historische Schlacht ist also mehr als nur die Summe beider. Auch aus diesem
Grund sind beispielsweise Schlachtenbilder das populärste Sujet der europäischen
Genremalerei, geht es dabei doch um die Erfassung disparater historischer
Geschehnisse zu einem Kulminationspunkt der Herrschaftsbildung.
Eine gewonnene Schlacht symbolisiert sowohl einen Gründungsakt als auch das
Überwinden eines Gegners. Eine verlorene symbolisiert dagegen einen Widerstand,
in dem sich z.B. ein „spiritueller“ Sieg feiern lässt. Ich gebe drei Beispiele:
Die "Kosovoschlacht" 1389, die "Schlacht auf dem Weißen Berg" 1620 und die
Schlacht auf den Düppeler Schanzen 1864.
Die Schlacht auf dem Amselfeld zwischen dem osmanischen Prinzen Murad und dem
serbischen Fürsten Lazar dient gewissermaßen als Blaupause moderner
Nationalmythologie, die sich an einem himmlischen Sieg durch eine irdische
Niederlage misst und später als 600jähriges Joch der Belagerung durch die Türken
instrumentalisiert wird (> himmlisches Volk).
Ebenso ist die Schlacht auf dem Weißen Berg vom 8. November 1620 ein
traumatischer Punkt für die Historiografie Tschechiens. Sie beschreibt , wie es in
populären Quellen heißt, „jenen verhängnisvollen Tag [...], als auf dem Weißen Berg
die Glaubensfreiheit begraben, das Volk durch das Kaiserheer vergewaltigt und die
Freiheit der Nation unterdrückt wurden“. Diese Propaganda wurde zur
Standardaussage in vielen populären Darstellungen böhmischer Geschichte. Die
verlorene Schlacht der böhmischen Ständearmee symbolisiert demnach das „Grab
der Nation“, den Beginn der Unterjochung (Joch: umgekehrtes Horn!) und eines
dreihundertjährigen „Wehklagens“, obwohl es als Folge faktisch weder einen
Untergang des politischen Ständesystems noch ein Ende der Autonomie der
böhmischen Länder gab. Aber genau das verlogene Wehklagen braucht man, um in
der Moderne die Dringlichkeit nationaler Souveränität aufzuzeigen, die in einem
spirituellen Sieg über die Fakten der Geschichte aufgeht.
Der Mythos der ehrenvollen Niederlage ergab sich schließlich auch für die Dänen in
der Schlacht auf den Düppeler Schanzen 1864, obwohl militärstrategisch völlig
unbedeutend. Dänemark verlor Schleswig und Holstein in der parallel stattfindenden
Londoner Friedenskonferenz. Analog war die Schlacht an der Mariza 1371 viel
folgenschwerer für das serbische Fürstentum als die Kosovoschlacht. Dennoch
bezogen die Nationalmythologien aus diesen Niederlagen die emotionale
Verknüpfung zur Tapferkeit des Volkes und zum Sinnbild grenzenloser nationaler
Treue.
Wenn schon militärische Niederlagen für nationale Glorie sorgen können, können
dies gewonnene Schlachten erst recht. In England dienen der Sieg über die
spanische Armada (1588) oder Lord Nelsons Sieg in der Schlacht von Trafalgar
(1807) als Kulminationspunkte nationalen Selbstbewusstseins.
Das Vorbild für jegliche nationale Mythologie des Sieges ist aber wohl die Schlacht
bei Marathon (490 v. Chr.), die bis ins 19. Jahrhundert als Ereignis von
welthistorischer Bedeutung stilisiert wurde. John Stuart Mill konnte so behaupten,
der Sieg Athens gegen die zahlenmäßig überlegene persische Streitmacht sei als
Ereignis der englischen Geschichte wichtiger als die Schlacht von Hastings (– obwohl
William the Conqueror 1066 für die französischen Normannen England nicht
begründete, wie es im Schulunterricht gelehrt wird, sondern einfach eroberte). Die
Niederschlagung der Truppen des persischen Königs Dareios erfüllt das
abendländische Ideal der Barbarenabwehr ebenso wie die Siege von Salamis und
Plataiai. Sie alle haben, betrachtet als kulturelle Gründungsakte, dem „asiatischen
Prinzipe alle Kraft entzogen“ wie Hegel messianisch schrieb.
Übrigens: Bei kulturalistischen Argumenten heutiger Islamismus- oder EU-Türkei-
Debatten kann man dieses Argument des asiatischen Prinzips auch heute noch
spüren, nur bezieht sich die Sprache des historischen Siegers nicht auf Schlachten,
sondern auf bürokratische Standards.
Kurzum: Die Nation ist das Medium des Sieges schlechthin, da selbst Niederlagen,
wie im Fall der serbischen Kosovoschlacht oder der dänischen Schlacht auf den
Düppeler Schanzen, als himmlische oder moralische Siege gedeutet werden können.
Wie wir noch sehen werden, ist die Verweigerung des Triumphes und das
Reflektieren über einen impliziten Triumph ein relativ modernes Phänomen.
Wie lässt sich nun dieses historische Medium des Sieges anthropologisch verstehen?
Die Macht der historischen Erzählung korrespondiert mit der Macht der existenziellen
Erzählung vor allem in der Anthropologie Elias Canettis.
Existenzieller Triumph
1) Überleben des anderen (Macht als existenzieller Triumph)
2) Überwindung des Einzeltodes in der Masse - Krieg
-----------------------------------------------------------------------------------
3) Synthesis: Machthaber = Paranoiker > die Masse selbst wird
prinzipiell verdächtig und muss "überlebt", d.h. beseitigt werden
(Untergangsimperativ).
Canetti definiert erstens, den Moment des Überlebens im Angesicht des Todes des
anderen als das triumphale Urphänomen von Macht schlechthin. Die Trauer um den
Toten mag einen untröstlich stimmen, aber verglichen mit der fundamentalen
Erkenntnis des eigenen Weiterlebens, hat sie nur eine emotionale
Stellvertreterfunktion. Sie steht zur „Übermalung“ des eigenen, nicht eingestandenen
Triumphes, den anderen überlebt zu haben.
Zweitens kulminiert der Triumph auf der Gesellschaftsebene in der Überwindung
des Einzeltodes in der kriegerischen Masse. Das Überleben orientiert sich nun nicht
mehr an dem vereinzelten Sterben des anderen, sondern wird ein wesentliches
Element des massenhaften Überlebens im Krieg. Canetti:
„Der Tod, von dem in Wirklichkeit jeder immer bedroht ist, muss als kollektives Urteil
verkündet werden, damit man ihm aktiv entgegentritt.“
Es soll metaphysisch triumphiert werden, und im Massentod des Krieges gelingt eine
sublime Überwindung des nackten Todes, um hier Agamben auf die Füsse zu stellen.
Bei beiden geschilderten Phänomenen geht es um ein anthropologisch fundiertes
Triumphieren über die existenzielle Gewissheit des Todes.
Drittens wieder die Synthese: Es heben sich die beiden Formen des Überlebens
dahingehend auf, dass nun die einstmals schützende Masse selbst verdächtig wird
und nun "überlebt" werden muss. Paranoische Führerdespoten (von Caligula bis
Stalin) lassen Scharen von möglichen Konkurrenten ermorden. Und "kollektive
Paranoia" wie sie faschistische Systeme hervorbringen, führt zur Vernichtung ganzer
Bevölkerungsgruppen, die als Bedrohung des Volkskörpers wahrgenommen werden
(> ethnische Säuberung). Canetti behauptet letztlich: die letzte Konsequenz der
Macht ist die Vernichtung aller.
Der historische und der ontologische Triumph kulminieren einerseits in der Schlacht
und andererseits in der Vernichtung aller. Es bleibt jeweils der Sieger übrig.
Wie bringt man die gezeigten Bilder und die erzählten Geschichten zusammen?
Welche Verknüpfung gibt es zwischen einem jubelnden Sportler und einer wehenden
Fahne?
Die Verknüpfung ist der Sieg, der gezeigte Sieg. Mich interessierte ja die Frage,
wie unser Gefühl der Überlegenheit oderUnterlegenheit das Bild, das wir uns von der
Wirklichkeit machen, bestimmt. Ich nannte das, was dieses Bild ausmacht, "Triumphparadigma".
Der Einfluss des Triumphparadigmas soll die Bedeutung des eigenen oder des
kollektiven Machtanspruches sicherstellen – die Gesten und Narrative mögen stark
variieren. Ob Nation, ob existenzielles Überleben, ob Masse, ob pathologische
Paranoia – der Siegeswille ist in die Strukturen der Gesellschaft eingeschrieben.
Aber: Wird hier die alte Nietzscheanische Kamelle vom Menschen als Kriegertypus
bemüht? Ist der Wille zur Macht und die Horde der – wie Nietzsche schreibt –
"blonden Bestien", die das Gute und das Recht durch ihre Siege definieren, das
Entscheidende der Gesellschaft? Soll hier, wie manche Autoren das einfordern, zur
inneren Wiederbewaffnung des Zivilen aufgerufen werden? Soll ein entsprechendes
Demarkations-Bewusstsein geschärft werden, wie dies kürzlich der martiale
Hollywood-Streifen "300" versuchte?
Mitnichten. Ich will mit meinen Ausführungen nur daran erinnern, dass sich das
Kriegerische längst und immer noch im Zentrum der liberalen, toleranten und
demokratischen Friedenskultur befindet, von der uns heute permanent vorgegaukelt wird, sie sei von Fundamentalisten und externer Militanz bedroht – wie zu sehen
vor allem in „Islam-Schwarz“ gehalten sind.
Hinter der demagogischen Druckerschwärze des "Spiegel" versteckt sich, was ich
den westlichen „liberalen Attentäter“ nenne. Das militante gute Gewissen. Der
liberale Attentäter trägt keinen Sprengstoffgürtel, sondern z.B. einen Aktenkoffer. Er
lässt nicht einen Bus hochgehen, sondern einen Betrieb oder ein „Terror-Netzwerk“.
Er stirbt nicht den Märtyrertod, sondern kommt immer davon. Er glaubt nicht an die
Jungfrauen im Paradies, sondern an die Jungfrauen in der Karibik. Er ärgert sich
nicht über Karikaturen sondern über Regulierungen. Er triumphiert, aber er leugnet
den Triumph.
4. Die Leugnung des Triumphes
Was macht den liberalen Attentäter aus? Das, was ideologisch den postideologischen
Hegemon auszeichnet: die Forderung nach Toleranz, Pluralität und Deregulierung, –
nach Yves Dezalay handelt es sich hier auch um einen Imperialismus auf
persönlicher oder Nicht-Regierungs-Ebene, der unter dem Banner der
Menschenrechte und der "Good Governance" auftritt, von linksliberalen Eliteschulen
in NGOs vermittelt und heute etwa im Umkreis der Öko-Globalisierung beheimatet
ist. Dazu passend, die "Urväter" der Weltrettung, die Slavoj Zizek "liberale
Kommunisten" nennt, wie Bill Gates oder George Soros. Auf nationalstaatlicher
Ebene bewirkt die konsensuale Postideologie des "Dritten Weges", gegen die Chantal
Mouffe so vehement anschreibt, vor allem die Leugnung des Triumphes, die
Leugnung des Antagonismus, die Leugnung des Krieges, die Leugnung der Toten –
Null-Tote-Doktrin, humanitäre Einsätze und dergleichen mehr. Das Kontinuum des
Friedens wird gleichgesetzt mit einem liberaldemokratischen Äon. Kriege werden
dann entweder im clausewitzschem Sinne als sanktionäre machtpolitische
Instrumente definiert (Irak) oder als barbarischer Rückfall außerhalb der
Gegenwartslogik verortet (Jugoslawienkonflikt). Der Postideologe glaubt sich jenseits
des Imperialismus und der Barbarei.
Kurz: Der liberale Attentäter – als postideologische Denkfigur – unterscheidet sich
vom fundamentalistischen dadurch, dass er seinen Triumphwillen leugnet und auch
das Zeigen des Triumphes unterlässt. Er gleicht einer Playmobilfigur, die trotz
martialischer Haltung immer nur lächelt.
Die hier waltende Leugnungshaltung – dies meine These – stammt aus der Zeit der
Französischen Revolution und äußert sich paradigmatisch in der Apparatur der
Guillotine.
Was ist die Idee der Guillotine? Es geht hier um die Idee einer möglichst
schmerzfreien zivilisierten Form juridischer Sanktion. Das Sterben soll idealerweise
unendlich verkürzt werden, so dass es hierbei zu einem bloßen Tod ohne Sterben
kommt. Und das ist die scharfe logische Zäsur, die das herabstürzende Fallbeil
verkörpert.
Leben | Tod
Die staatliche Sanktion entzieht sich hier der Verantwortung des Sterbens – sie
„leugnet“ das Sterben – indem sie den Übergang von Leben zu Tod nihiliert. Später
wird die moderne Kriegstopologie des "Ausschaltens", "Beseitigens", „Vernichtens“
oder "Auslöschens" für diese metaphysische Leugnung stehen. (Die jüngste Debatte
um die Todesspritze in den USA wegen einiger in diesem Sinne „missglückten“
Hinrichtungen macht auf diesen neuralgischen Punkt aufmerksam)
Es steckt aber noch eine andere Leugnung in dieser Geste. Es ist die strukturelle
Leugnung des Canetti-schen Triumphes über den Tod des anderen.
Was ist heute bei den barbarischen inszenierten Hinrichtungen das Barbarische? Es
ist die Zurschaustellung des Opfers. Das Zeigen des Triumphes. Das Vorführen der
Trophäe.
Die konträre Blickpolitik verfolgt nun die Ideologie des erwähnten liberalen
Attentäters, der z.B. im Flugbomber sitzt und über Jugoslawien oder dem Irak
humanitäre Einsätze fliegt. Er bleibt zwar ebenso anonym wie der revolutionäre oder
auch der barbarische Henker (Identität wird verhüllt), aber er verweigert sich und
anderen den rigorosen Triumph des Barbaren (> amerikanische Fliegerpiloten
werden später in "Doku-Soaps" als liebende Väter dargestellt). Die damit evozierte
Geste der Erhabenheit findet sich schon in der frühesten Literatur des "gerechten
Krieges" (wie etwa bei Augustinus).
Man kann diese wollende Zurückhaltung auch sehr gut in dem zögernden
Zustimmungsschreiben von Jürgen Habermas nachlesen, als es 1999 um das
Bombardieren von Milosevics Rumpfjugoslawien ging. Bombt, aber freut euch nicht
darüber, keiner wird gewinnen. Aber tut es. Es muss getan werden. Ein Ja, das sich
selbst verleugnet (1). Prompt findet man seither in der Literatur verstärkt
philosophische Erörterungen gerechter Kriege (wie etwa bei Vittorio Hösle).
Diese Leugnung des Triumphes betrifft aber nicht nur die Politik. Mir geht es ja um
die Phänomenologie des Politischen, und die greift überall.
Die moderne evolutionäre Anthropologie propagiert heute etwa mit Michael
Tomasellos Konzeption der "shared intentionality" menschliche Primaten vor allem
als kooperative Wesen. Triumphlogiken werden paradoxerweise eher dem Tierreich
als typisch zugespielt – etwa das Brusttrommeln bei Gorillas – Tiere als "menschliche
Barbaren".
Tiere unterliegen nach Ansicht der Forscher gewissen Zwecken, während Menschen
schon im Frühkindesalter Ziele verfolgen, d.h. sie informieren andere über etwas,
ohne etwas von ihnen zu erwarten. In diesem Pazifizierungsbild vom Menschen
werden Anthropologen selbst zu dem Objekt ihrer Theorie, denn sie orientieren sich
subtil an Imperativen der politischen Gegenwart. Daher wird Gewalt biologisch oder
pathologisch, aber selten kulturell erklärt. Es wird eine Art anthropologische
Reconciliation im Labor betrieben, so wie in kriegerischen Zeiten das Menschenbild
oftmals martialisch erklärt wurde.
Auch Forscher vollziehen unbewusst jene historisch gewachsenen Prozeduren der
zivilisatorischen Entwicklung nach, die ich eben das Leugnen des Triumphes nenne.
Jedoch: Auf der Innenseite dieser Leugnungsgesellschaften gibt es aber sehr wohl
triumphale Gesten, nur wenden sie sich an die nicht darstellbare Sphäre des sozialen
Überlebens.
Vor allem in Deutschland, aber nicht nur dort, gibt es die nahezu numinos
angebetete Drift zwischen den Siegern der Arbeitsgesellschaft (den Erfolgreichen)
und den Verlieren, als ob es sich um eine Rassentrennung handelte. Darüber hinaus
herrscht die mahnende Praxis des öffentlichen Vorführens des Losers, etwa im
Proleten-TV. Das dient als Darstellung der gesellschaftlichen Niederlage. Loser
werden hochgehalten wie abgetrennte Köpfe, die nicht mehr in den
gesellschaftlichen Korpus integriert werden können.
Die radikale Logik dieser Entwicklung stellt Constantin Costa Gavras in seinem Film
"Le Couperet" (Die Axt, 2006) dar. Nur geschieht dies aus der Perspektive eines
einst erfolgreichen Managers in der Papierindustrie, der seinen Job verliert und
keinen Neuen mehr findet. Das Scheitern darf nicht zugelassen werden.
Er entscheidet sich nun bei der nächsten Bewerbung, alle seine Mitbewerber zu
massakrieren – ganz im Sinne von Canettis Machtparanoiker –, um endlich seine
wohlverdiente Stelle zu ergattern.
Das Interessante bei Gavras ist, dass der Protagonist zwar anfangs Skrupel zeigt,
aber letztlich siegt die Struktur über das schlechte Gewissen. Der liberale Attentäter
beseitigt alle Konkurrenten und erhält seinen Job. Er hat gesiegt. Und niemand
kommt ihm auf die Schliche.
Die Pointe kommt zum Schluss. Der Film zeigt, wie nun der Protagonist selbst auf
die Abschussliste einer neuen liberalen Attentäterin kommt. Er ahnt urplötzlich, dass
er nur Teil eines übergeordneten Triumph-Kreislaufs ist.
Mit dieser zyklische Idee der natürlichen Konkurrenz zeigt Costa Gavras die
soziallogische Konsequenz des liberalen Attentäters. Er kommt davon, aber zum
Schluss setzt der natürliche Kreislauf des globalen Zynismus ein. – Der
Überlebenskampf auf Arcadia. Die Frage ist: Gibt es ein Jenseits von Arcadia?
5.Jenseits des Paradigmas?
Ich erwähnte anfangs die binäre Ordnung des Strukturalismus (die Opposition
zweier virtueller Terme) und leitete daraus das Triumphparadigma ab. Im Grunde
besteht das Projekt des Poststrukturalismus darin, diese binäre Codierung, die
gesellschaftlich übersetzt schließlich bis zum Duell der Existenzen führt, außer Kraft
zu setzen.
Die gesellschaftlichen Übersetzungen des poststrukturalen (postmodernen?)
Denkens haben – wie ich zu zeigen versuchte – in der gesellschaftlichen Sphäre das
Paradigma nicht dekonstruiert, sondern einfach geleugnet.
Aber: den Triumph zu leugnen, heißt nicht, sich jenseits des Triumphes zu befinden.
Und die Konsensual-Demokratie des "Dritten Weges" – die übliche verlogene
"Dialog-Kultur" und die "All-in-One" Politik sind Belege hierfür.
– Das All-in-One der bayerischen CSU: konservativ, liberal, sozial. Nur der Stalinismus kannte
vergleichbare Synthesen antagonistischer Prinzipien. Auch konnten nur „innerparteiliche Gegner“
den Triumphator stürzen.
Dieses Problem der Leugnung hat Barthes sehr wohl erkannt, wenn er mit seiner
Nicht-Figur des Neutrums einen semiologischen Feldzug gegen den unbedingten
Sinn führt. So abstrakt sich seine literarische Analyse anhören mag, ist denn die
immer wieder von der Politik beschworene „Mitte“ in letzter Konsequenz nicht das
Analogon zur Unparteilichkeit des taoistischen Wuwei (Alles-Enthaltung), das eben
aus dem Reich der Mitte stammt? Der Vergleich trifft insofern nicht zu, als dass die
Triumphleugnung westlichen Typs immer einen versteckten Triumph avisiert (wie
oben bei der nationalen Historiographie oder als ethischer Triumph der „westlichen
Wertegemeinschaft“) und Barthes eben die Leugnung der Logik des Triumphes
anspricht.
Selbstverständlich ist dies kein unbekannter Anspruch. Immer wieder hat etwa die
künstlerische Reflexion auf die Herausforderungen des Paradigmas reagiert. Als
aktivistische Kunst versucht sie etwa gesellschaftlichen Verlierern ein Forum zu
bieten.
Allerdings: Wenn Spivak die Frage aufstellte, ob die Subalternen sprechen können,
so kann man fragen, ob und welche Gesten sie hinterlassen.
Die Verlierer der Gesellschaft haben keine Repräsentationsform, und deshalb hat
schon Marx gesagt, dass Arbeiter kein Vaterland haben. Sie können nicht als Figuren
des Nationalen politisch abgebildet werden, weshalb das Proletariat nur
internationalistisch agieren kann.
Insofern sind auch Armut und die Verlierergruppen der Gesellschaft gesellschaftlich
nicht darstellbar, sondern nur vorführbar – statistisch oder exemplarisch. Reichtum
lässt sich darstellen, denn er ist "bildreich" und individuell, aber der Mangel lässt sich
nicht darstellen. Sicher kann man schildern, was einem fehlt. Man kann z.B. in einer
Talk Show als exemplarischer Vertreter der Unterschicht verlautbaren: "1500 brutto
im Monat reichen hinten und Vorne nicht." Aber das ist kein Darstellungsmodus, den
z.B. ein Manager oder ein Machthaber haben. Der Arme hat kein Bild der
Repräsentation, da er sich über den Mangel definiert.
Hier z.B. Arbeitsplatzmangel – das augestellte Leid des anderen, unter dem man als
Zuschauer womöglich selbst leidet, lässt einen – gleich in einem Kolloseum –
triumphieren über die in die Arena geschickten Job-Gladiatoren.
Gegentendenzen und Bildfindungen sind zumeist satirischer oder künstlerischer
Natur, den sie ändern nicht wirklich oder nur kurzzeitig etwas an dem
Darstellungsmodus des Losers.
– Glückliche Arbeitslose - negative Affirmation Überhöhung der neoliberalen
Hochstimmung und Übertragung auf die vermeintlichen Verlierer (siehe auch die
Berliner „Absageagentur“, welche apriorische Ablehnungsschreiben an Firmen im
Namen der Arbeitssuchenden verfasst)
Hier geht es um die Auflösung des Triumphparadigmas – allerdings in den
Peripherien der Kulturproduktion.
Bazon Brocks Strategem von der Zivilisierung der Kulturen geht in eine
umfassendere Richtung, nämlich die anfangs angesprochene Unterwelt des Zeigens,
welche das Kulturparadigma von Religionen und Nationen auszeichnet, an die
Oberfläche zu bringen und zu bannen. Nach Brock ist die Musealisierung des
ideologischen Kampfes – seine kontemplative Ausstellung – die Voraussetzung dafür,
sich den wirklichen sozialen Antagonismen zuzuwenden, und er sieht hier vor allem
die Künste als gesellschaftliche Grundlagenforschung mit Zivilisierungsanspruch.
Der Inhalt der Barthschen Untersuchung des Neutrums ist auch in einem
vorpolitischen Sinne eminent politisch, da
erstens, die Pluralität der Phänomene im Fokus ist, etwa in demselben Sinne, in dem
Hannah Arendt nicht vom einzelnen Menschen, sondern von der Multitude der Polis
als philosophischer Figur ausgeht. – also Perspektivität und Generalismus wie bei
Brock;
zweitens, die Verweigerung gewisser Anschauungen nicht die Verweigerung von
Politik, sondern die Verweigerung bisheriger triumphaler Politikformen beinhaltet.
(bei Brock eine subjekt-objektive „Selbstfesselung“ und „Unterlassung“)
Es handelt sich hier gewissermaßen um eine immanente Subversion.
Ich will mit diesen Schlussskizzen keineswegs andeuten, dass es Auswege aus der
Nichtdarstellbarkeit bzw. ausschließlichen Vorführbarkeit der (sozialen) Niederlage
gibt. Ich will nur auf ein epistemologisches Problem hinweisen, wenn man aus
wissenschaftlicher Sicht versucht, unterschiedlichste Bereiche in gesamt darstellende
Form zu bringen und daraus etwaige Forderungen bzw. Problemlösungen
anzubieten. Wie positioniert sich die Analyse des Triumphparadigmas?
Ästhetisch-politisches Schema
Anthropologie: das historisch Universelle
Phänomenologie: das unhistorisch Universelle
Geschichte: das historisch Partikuläre
Politik: das unhistorisch Partikuläre
Zwischen den Bereichen herrschen Übersetzungsschwierigkeiten: der universelle
Humanismus ist nicht politisch übersetzbar, der historische Materialismus stößt sich
an der hermeneutischen Maxime der phänomenologischen Schau usw.
– Es kann nicht darum gehen, Interessenskonflikte als Wertekonflikte zu übersetzen,
wenn damit eine Leugnung des Paradigmas einhergeht.
– Barthes und andere planen den permanenten Ausbruch aus dem Paradigma:
Generalismus/ Neutrum/Wu wei
> Kubricks erregte Affen – Monolith als Verbildlichung des Paradigmas, das den
Triumph in die Welt bringt
Es geht nicht um Strukturen, sondern um Variablen der Erkenntnis und die Erkundung des politischen Feldes mittels Analogien, etwa als ob man ein Nationalismus-Phänomen in die vorzeitliche Geschichte des Menschen verfrachtet und nun darauf blickt, wie die Affen in Stanley Kubricks 2001: A Space Odyssey.
– d.h. es geht darum, sich selbst in einen dieser Affen zu erkennen (Heiner
Mühlmann: „Hominisierung statt Humanisierung“). Dann erst erkennt man in den
alltäglichsten politischen Gesten Urformen herrschaftlichen Ausdrucks und vor allem
lernt man, über das, was uns alltäglich umgibt, ungehörig zu staunen. In Kubricks Film führt die Entdeckung des Monolithen zur Entwicklung von Bewusstsein, Werkzeug und Waffe.
Man könnte in dieser Hinsicht zugespitzt formulieren: Der Mensch ist
anthropologisch ein Zeige-Wesen. Dort, wo er das Paradigma der Souveränität
(Geschichte, Staat, Nation, Krieg, Museum) nicht ablegt, denkt und zeigt er in Sieg
und Niederlage, aber nur dort, wo er nicht zeigt oder nichts zeigt
(phänomenologisch: im Sinne des Barthes-schen Neutrums), ist er eigentlich frei.
Menschheit und Freiheit sind zwei natürliche Gegensätze, und dies wird im Zeichen
des Triumphes und in der Geste der Niederlage deutlich.
(1) Jürgen Habermas: Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral. In: Die Zeit, Nr. 18, 1999. „Wenn es gar nicht anders geht, müssen demokratische Nachbarn zur völkerrechtlich legitimierten Nothilfe eilen dürfen.“ (...) „Gerade dann erfordert aber die Unfertigkeit des weltbürgerlichen Zustandes eine besondere Sensibilität.“ (...) „Die Selbstermächtigung der Nato darf nicht zum Regelfall werden.“
Triumph des Zeigens