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Nation & Exzess IV: Extrem!    

Überlegungen zur Logik der Darstellung radikaler Phänomene in Kultur und Politik || Präsentation Leipzig Nov. 2009 || Zoran Terzic


Das Bedeutungsfeld des Radikalen, Extremen, Fundamentalen usw. hat seine Ursprünge und Wirkungskreise nicht nur innerhalb der politischen Debatte. So begleiten seit je her fundamentale Fragen die philosophische Anstrengung, Extremsportlern genügt es nicht, nur einen Gipfel zu besteigen, und innerhalb der Kulturproduktion gilt und galt es als Auszeichnung höchster Modernität, radikal zu sein. Im politischen Spektrum werden derlei Eigenschaften nicht als konsequent, mutig oder gründlich bewertet, sondern als Ausschlusskriterium für die Teilnahme am gesellschaftlichen Konsens. Anders formuliert: Dort wo ein gesellschaftlicher Konsens besonders stark ausgebildet ist, können sich systemisch politische Vorstellungen des Radikalen ausbilden.


Auch die Vorstellungen von künstlerischer Radikalität oder philosophischen Fundamentalfragen erhalten ihren Sinn aus der Konstitution eines konsensualen, nicht-radikalen Alltags, einer Normalität oder Naturwüchsigkeit, die im radikalen Akt herausgefordert wird. Die Seinsvergessenheit philosophisch anzuprangern (Heidegger) ist in diesem Sinne ebenso ein radikaler Akt wie z.B. der avantgardistische Versuch, Kunst und Leben in eine formale Einheit zu bringen (Fluxus). Ebenso klar ist aber: Wenn nach Beuys jeder Mensch allein kraft seiner gesellschaftlichen Existenz ein Künstler wäre, dann verschwände mit der Autonomie der Kunst auch das gesellschaftliche Leben in einer – wie Ranciere sagen würde – ethischen Indifferenz. Die Indifferenz bzw. Immanenz impliziert daher eine andere Form der Radikalität als die Antagonismen innerhalb der Gesellschaft – sie impliziert die Radikalität des Mainstream, die Radikalität des Zentrums, die Radikalität des Totalen. Und für diesen Tatbestand hat sich im 20. Jahrhundert der Begriff des Totalitarismus durchgesetzt.


In heutigen liberalen Demokratien werden die Herausforderungen des Kunst-Extremismus positiv sanktioniert: während des gleichzeitig wütenden Bosnienkrieges wurde z.B. 1994 ein Theaterregisseur hierzulande, wie es in der Laudatio hieß, für seine kompromisslose Herangehensweise und besondere Radikalität ausgezeichnet (Fritz-Kortner-Preis an Frank Castorf 1994).


Der Grund, warum wir zwischen Kunstradikalem und Politradikalem unterscheiden liegt in der Annahme unterschiedlicher Wirksamkeitsebenen begründet. Die künstlerische Radikalität hat vermeintlich regulatorische Funktion. Aber zugleich ist diese Vorstellung auch der Mythos des Konsenses. Denn wenn uns Kunst wirklich aufrütteln und animieren soll, dann würde sie auch politisch wirksam, und genau dies ist offenbar von vornherein ausgeschlossen. Kunst soll uns aufrütteln unter der Maßgabe, dass sie es nicht darf. Adorno hat geschrieben, dass sie es auch nicht muss. Kunst wird z.B. als Instrument bei offiziellen Versöhnungsprojekten verwendet, aber man ist nicht bereit, das Offizielle selbst der Kunst unterzuordnen d.h. die Ordnung aufzugeben, die befrieden soll, damit man z.B. die vorgängige politische Ordnungsmacht thematisiert, die stets eine kriegerische Unterwerfungs-Logik besitzt. Der demokratische Konsens hat die Radikalität außerhalb seines politischen Umfangs verbannt, produziert sie aber dauernd selbst. An Eklats und Skandalen wird diese Konstellation besonders deutlich.



Die ZDF-Talkshow Johannes B. Kerner vom 9. Oktober 2007 lieferte ein anschauliches Beispiel, als die frühere Tagesschau-Sprecherin Eva Herman vorzeitig aus der Sendung verabschiedet wurde, weil sie sich missverständlich zur NS-Familienpolitik geäußert und mit einer Bemerkung über ‚Autobahnen‘ für Empörung gesorgt hatte. Die historische Assoziation ‚Autobahn‘ löste eine Kaskade von Reaktionsmustern aus, anhand derer sich ein latenter historischer Diskurs lautstark manifestierte.

Das Spiel mit derartigen Assoziationen kann andererseits aber durchaus im Sinne einer künstlerisch subversiven Praxis verwendet werden, wie etwa das Beispiel des LP-Titels der Elektro-Pop-Gruppe ‚Kraftwerk‘ aus dem Jahre 1974 verdeutlicht.




Der von Emil Schult entworfene Umschlag zeigt eine Autobahnstrecke, auf der im Vordergrund eine Mercedes-Limousine und ein Volkswagen Käfer fahren. Die Straße verliert sich im bergigen Horizont, der im Bildmittelgrund von einer modernen Brücke durchtrennt wird. Das Bild erinnert an typische Reklamezeichnungen aus den Wirtschaftswunderjahren. Zugleich gemahnt es uns aber mit seiner Sonnenuntergangsstimmung, deren Strahlen an die Lichtdome der Nationalsozialisten erinnern, und mit den typisierten Autos, der Leere der Fahrbahn, den Tannen, Bergen usw. auch an riefenstahlsche NS-Romantik.

Dieser ‚Eklat‘ ist in seiner Ambivalenz subtil und kreativ, während der erstere zu unproduktivem und antagonistischem Verhalten führt.

Man könnte auch sagen: die Radikalisierung ist im ersten Fall Effekt, im zweiten Fall Zweck. Im ästhetischen Programm von Kraftwerks „Fahr’n, fahr’n, fahr’n auf der Autobahn“ ist die Profanierung des Holocaust und des Nationalsozialismus akustisches und visuelles Prinzip. Die Kunst macht den Unterschied, indem sie sich die Ambivalenz unterordnet und nicht von ihr dominiert wird. Das ist ihre Form der Radikalität.


Sobald aber der Unterhalter oder der Künstler den ihm zugewiesenen Spielplatz zu verlassen scheint, gibt es kein Spielen mehr, weil damit die Totalität des Systems angesprochen wird. Die transgressive Erforschung der Grenzen des Einschluss- bzw. Ausschlussverhaltens liegen dabei heute irgendwo zwischen Kulturschaffenden, Werk, öffentlicher Rezeption und medialem Feedback.


Die Aufgabe ist: die Untersuchung der Gesten des Ein-, Ausschlusses, d.h. die Gesten der Zuweisung von Radikalität, Extremismus und Fundamentalismus („Das geht zu weit!“) und die dadurch sich impliziert aufbauende Vorstellung eines Zentrums, die meiner Ansicht zufolge zu Paradoxien führt.


A)

In den letzten Jahren hat sich die paradoxe Zuweisungs-Logik vor allem an der Figur des fundamentalistischen Extremisten etabliert. In der westlichen Darstellung der Taliban, Hisbollah, Hamas usw. erscheinen diese Gruppierungen einerseits als Asketen und Ikonoklasten (man denke an die kürzliche Erschießung eines durchgebrannten Paars in Afghanistan und die Sprengung der afghan. Buddhastatuen vor einigen Jahren), andererseits sollen sie als fundamentalistische Ideologen d.h. Bildgläubige, die an die unmittelbare Umsetzung einer Vision glauben, durchgehen. Der Hintergrund dieser Zuweisung ist, dass Fundamentalisten nicht Teil einer westlichen „ästhetischen“ Disposition (einer Weltanschauung) sind, was im Sinne Chantal Mouffes zu „antagonistischen“ Politiken führt, die nach außen Verhandlungsleugnung propagieren, um das Bild des nicht-verhandelbaren Barbaren zu wahren, während man permanent in inoffizielle Verhandlungen mit eben diesen verstrickt ist (z.B. ‚interne‘ Verhandlungen Israels mit der Hamas um die Freilassung eines entführten Soldaten). Ich behaupte also, es geht bei diesen Differenzierungen auf grundsätzlicher Ebene zunächst um ästhetische Dispositionen – also Entwürfe, die sich auf eine Ganzheit der Anschauung beziehen.


Diese spezifische Disposition des Fundamentalisten lässt sich exemplarisch an der Verquickung vom Kulturbösen und Naturbösen festmachen – d.h. entweder ‚Terroristen‘ haben einen bösen Willen und handeln mit Absicht, oder sie sind irrationale Barbaren, die ebenso wenig bekämpft werden können wie ein Wirbelsturm oder ein amoklaufender Student.

Also entweder die physis ist pathologisch, dann kann sie nicht böse sein, oder die Absicht ist böse, aber dann kann sie nicht pathologisch sein. Naturböses übersetzt sich als die kontrafaktische Figur des Barbaren, die seit der Antike fundierend ist für westliche Kulturen.


Die Zuschreibung der Radikalität des Fundamentalisten besteht paradoxerweise einerseits darin, dass er gar nicht anders kann als er will (denn er ist Fundamentalist) und andererseits, dass er nichts anderes will, obwohl er könnte (denn er ist radikal). Diese Figur des Fundamentalisten ist determiniert in der doppelten Wortbedeutung: innerlich bereit aber zugleich äußerlich bestimmt.


Interessant ist, dass bei der Medialisierung der ‚Piratenaktivitäten‘ vor der Küste Somalias diese Verquickung außer Kraft gesetzt ist (denn Piraten wollen ‚nur‘ Geld), und Piraten offenbar die einzige para-extremistische bzw. terroristische Organisation bilden, die im Terrorkampf verfeindete Seiten in ihren Kreuzzügen eint (sowohl der Iran als auch die USA sandten Schiffe zur ‚Piratenbekämpfung‘), weil sie sich der Fremdzuschreibung entziehen: sie sind ganz einfache Verbrecher.


B)

Das Problem der Darstellbarkeit betrifft aber nicht nur die Terrorismus-Debatte, sondern auch die Klassifizierung politischer Positionen, die man per Eigenschaftswort z.B. auf einer Skala anordnen könnte.


konservativ - rechts - patriotisch - nationalistisch - ultranationalistisch - rechtsradikal - faschistisch - nazistisch


Diesem Bild zufolge nähme die Radikalität der politischen Ansichten nach rechts hin zu („Rechtsextremismus“), wobei diese Annahme eine die eigentliche Politizität des Phänomens verstellende (z.B. journalistische) Konvention ist. Was meint z.B. die bisweilen in den Medien kursierende Unterscheidung von „nationalistisch“ und „ultra-nationalistisch“? Was meint man mit diesem „Ultra-“?


Wie rechtsradikal oder neonazistisch ist z.B. diese Fahne der Jungen Landsmannschaft Ostdeutschland (s.o.), die die Grenzen von 1937 symbolisch einfordert? Wäre es nicht viel ‘passender’, die Frontverläufe von 1942 oder gar die europäische Landkarte einzuzeichnen, die dem Expansionsgedanken des ‚Dritten Reiches‘ eher Rechnung tragen?


Aber würden wir dann eine derartige Symbolik als extremistisch einstufen?


Oder anders gefragt: kann man sich dessen so sicher sein, dass der Nationalsozialismus nur eine gesteigerte, radikalisierte Form des Nationalismus sei? Hannah Arendt hat diesen scheinbaren Common Sense schon 1955 in Frage gestellt:


„Die Nazis haben ihre ursprüngliche Verachtung des Nationalismus, ihre Geringschätzung des Nationalstaates, der ihnen eng und provinziell erschien, niemals widerrufen; dafür sind sie nicht müde geworden zu betonen, dass ihre ‚Bewegung‘ (...) internationale Ausmaße und Bedeutung habe und als solche wichtiger sei als jeder, auch der eigene Staat, der seinem Wesen nach an ein bestimmtes begrenztes Territorium gebunden ist.“


Zwischen 1939 und 1943 fokussierten führende Nazi-Funktionäre zunehmend auf eine transnationale Nachkriegsordnung. Paradigmatisch ist hierfür der 1942 von der Berliner Wirtschafts-Hochschule veranstaltete Kongress zum Thema „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“. Von Ribbentrop und von Renthe-Fink schlugen ein Jahr später einen europäischen Wirtschaftsraum nach konföderalem Muster vor, um – wie es hieß – „Frieden, Sicherheit und Wohlstand für alle europäischen Staaten und ihre Bevölkerungen zu fördern“. Auch Joseph Goebbels verknüpfte in einer Rede vor ausländischen Journalisten die Ursachen für die Entstehung des Deutschen Reiches mit denen für die europäische Integration.





Abb. Exhibition of the French Waffen SS, Paris, 1944. Source: Loughland 1997


Wie der konservative britische Politikwissenschaftler John Loughland darstellt, wurde seit Ende der 30er Jahre immer wieder der europäische Charakter der NS-Bewegung heraufbeschworen und zunehmend das Deutschsein als Attribut und nicht notwendige Bedingung der völkischen Identitätsvorstellung begriffen. Die nationalsozialistische Ideologie als „rechtsradikal“ einzustufen, wäre aus dieser Perspektive absurd – „europäisch-zentristisch“ wäre wohl korrekter. Dennoch wird dies allerorts getan, um eine ideologische Distanz zu einem radikalen Phänomen herzustellen.


Welche Art der Ideotopik wäre aber von Nöten? Wie würde man den Europäismus des europäischen Widerstands gegen den Faschismus einordnen? Welche Zuordnungen sind politisch sinnvoll bzw. unsinnig? Wie soll man politische Phänomene zuordnen, die sich (anscheinend) der Klassifizierung entziehen?


Zur Beantwortung derartiger Fragen der Repräsentation ist es nach meiner Meinung unerlässlich, auch jenseits des politischen Tellerrands zu blicken.


Meine These ist, dass sich in Bezug auf die gezeigten Beispiele heute vor allem im öffentlichen Kulturdiskurs künstlerische und politische Radikalität überdecken und heute den Legitimationsboden für den endemischen Nationalismus der heutigen liberalen Demokratien bilden. Die Kultur ist gewissermaßen der Deckmantel, der die endemische Radikalität symbolischer und historischer Logiken der heutigen Nationalstaaten zur Trivia macht. Michael Billig spricht hier etwa von Banal Nationalism. Man könnte auch von einem Totalismus sprechen.

Will sagen: Das eigentliche Thema des Extremen ist der Mainstream Nationalismus, die Vorstellung tausendjähriger Kulturen, linearer Nationalentelechien usw. bis hin zu Tendenzen des historischen Revisionismus unter dem Gewand der historischen Aufarbeitung, die als liberale Form nationaler Selbstfindung hoffähig gemacht werden, und eines Tages Adornos Befürchtung bestätigen könnten, dass der Faschismus im Gewand der Demokratie zurückkehrt.





Literatur:

Adorno, Theodor W. : Ästhetische Theorie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main, 1973.

Barthes, Roland : Das Neutrum. Suhrkamp, Frankfurt/M, 2005.

Bourriaud, Nicolas : Relational Aesthetics. Dijon: les presses du réel, 2002.

Brock, Bazon : Der Barbar als Kulturheld. Ästhetik des Unterlassens. Dumont, Köln, 2002.

Canetti, Elias : Masse und Macht. Frankfurt/M. [u.a.] : Büchergilde Gutenberg, 1982.

Deleuze, Gilles : Logik des Sinns. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M, 1993.

Eagleton, Terry : Ästhetik. Geschichte ihrer Ideologie. 1994.

Flusser, Vilem :  Gesten. Fischer, Frankfurt/M, 1994.

Foucault, Michel : Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte. Merve, Berlin, 1986.

Hofmann, Wilhelm. (Hg.) : 1999. Die Sichtbarkeit der Macht – theoretische und empirische Untersuchungen zur visuellen Politik. Baden-Baden.

Jay, Martin. 1993. Hannah Arendt und die Ideologie des Ästhetischen oder: Die Ästhetisierung des Politischen. In: Kemper, Peter. Die Zukunft des Politischen. Frankfurt, 119-141.

Kube Ventura, Holger : Politische Kunst Begriffe in den 1990er Jahren im deutschsprachigen Raum. Edition Selene, Wien, 2002.

Mühlmann, Heiner : Kunst und Krieg – Das säuische Behagen in der Kultur. Salon Verlag, Köln, 1998.

Mühlmann, Heiner : Die Natur der Kulturen - Entwurf einer kulturgenetischen Theorie. Springer, Wien, New York, 1996.

Rancière, Jacques: Die Politik der Ästhetik. In: archplus H. 178 (Juni 2006).
Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Berlin: b_books 2006.

Rancière, Jacques: Das Unbehagen in der Ästhetik. Wien 2008.

Soeffner, Hans-Georg; Tänzler, Dirk : Figurative Politik. Zur Performanz der Macht in der modernen Gesellschaft. Opladen, 2002.

Willems, Herbert; Jurga, Martin. Hg. : Inszenierungsgesellschaft. Opladen, 1998.







 

  


Unerhörte Frage: Was können wir von diesen Rechtsextremen lernen? –oben: junge ostdeutsche Rechtsextremisten mit Territorialforderung (Dresden, 2009); unten: mein ‘Verbesserungsvorschlag’. Die Nazis haben sich schließlich auch nicht mit den Grenzen von 1937 zufrieden gegeben und waren an nationalistischer “Kleinstaaterei” nicht interessiert. Faschisten wollen das Ganze, Nationalisten das ‘Ihre’ (das manchmal auch das Ganze ist). Allerdings würde jemand, der heute ein deutsches Europa forderte, gar nicht als extrem sondern allenfalls als absurd wahrgenommen. Ein ‘Extremismus’ macht sich also nicht an der Extremforderung fest, sondern an einer Forderung, die nur in Maßen auf jenseits dessen verweist, was innerhalb eines akzeptierten politischen Spielraums möglich ist.