mimicry (2010) __
the shaman (2009) __
sieg und niederlage (2008-10) __
expansion der gegenwart (2009) __
brigade joussance (2004) __
spaßkulturen (1997) __
international fuel crisis (2007-2010) __
kunst des nationalismus (2006) __
unkirche (2007) __
widerlegung der unterhaltung (1998) __
traktat über die schlange (1998) __
turns (2001-2009)
Nation & Exzess III: Die Axt
Zur politischen Phänomenologie von Sieg und Niederlage || ZT 2008
Kein Sieger glaubt an den Zufall.
Friedrich Nietzsche
(§1) Triumphparadigma – Vom Köpfen des Feindes, Triumphmärschen, Toten-
kulten, Sportwettkämpfen, Klassenkämpfen, Wahlkämpfen bis hin zu heutigen sozi-
alen Verlierergruppen der Gesellschaft – stets begleiten den Tatbestand von Sieg und
Niederlage eindeutige Gesten und Zeichen (wie etwa das „Victory“-Zeichen oder
das erhobene Haupt). Meine These lautet, dass das kulturelle Vokabular des Trium-
phes größtenteils aus dem Fundus des Krieges stammt und dass die Enkulturierung
vor allem in heutigen Gesellschaften permanent neue Sieger- und Verlierertypen
produziert, die als Bestandteil eines „Sinnkapitals“ innerhalb des öffentlichen Dis-
kurses zirkulieren und als Ersatzmarker der Souveränität fungieren.
Das Thema ist nicht neu. Spätestens seit Spencer, Marx, Nietzsche und später
Foucault ist der gesellschaftliche Antagonismus prägend für die Theoriebildung, wie
sie die bellizistische Tradition immer wieder einfordert.
Die traditionelle Vorstellung von Souveränität (etwa mit Jean Bodin) orientiert
sich an der Entscheidungsgewalt und an der Fähigkeit, für Konsequenzen zu sorgen.
Die historische Idealkonsequenz ist der militärische Sieg, der auf richtigen Entschei-
dungen beruhte, da, wie Platon in den Nomoi schreibt, „weder Besitztümer noch
Einrichtungen irgendeinen Nutzen gewähren, wenn man nicht im Kriege den Sieg
davontrage“.2 Aber dem Primat des Militärischen liegen schon bestimmte Vorstel-
lungen zugrunde, die jeder Auseinandersetzung erst Sinn und Geltung verschaf-
fen. „Der Sinn beruht auf dem Konflikt [...], und jeder Konflikt ist sinnerzeugend.“3
könnte man etwa mit Roland Barthes behaupten, wobei es nicht um die bloße Tatsa-
che des Krieges, sondern um dessen bestimmende Logik geht.4
Man kann diese Logik auf die Ökonomie oder andere Bereiche der Gegenwart
übertragen, um mehr über das Vokabular der Zeichen zu erfahren, die Siege und
Niederlagen gesellschaftlich erzeugen. Ich nenne diesen thematischen Gesamtkom-
plex Triumphparadigma. Roland Barthes zufolge ist ein Paradigma „die Oppositi-
on zweier virtueller Terme, von denen ich einen aktualisiere, [...] wenn ich Sinn
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1 Friedrich Nietzsche [1887] Die fröhliche Wissenschaft, § 258.
2 Platon, Nomoi, 625d f.
3 R. Barthes, Das Neutrum, Frankfurt a. M. 2006, S. 33.
4 Vgl. M. Foucault, Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte, Berlin 1986.
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erzeugen will.“5 Das Triumphparadigma lässt sich somit als ein Zusammenhang
begreifen, in dem entweder ein Sieg oder eine Niederlage symptomatische Bedeu-
tungsfelder erzeugen, wie z.B.:
ein politisches Feld: Wahlsieg – Wahlniederlage
ein historisches Feld: Herrschaft – Untergang
ein sportliches Feld: Gewinner – Verlierer
ein Wissensfeld: Evidenz – Indifferenz
ein ökonomisches Feld: Erfolg – Pleite
ein soziales Feld: Aufstieg – Abstieg
ein biographisches Feld: Karriere – Scheitern
usw.
Ich kehre die Gewichtung dieser Begriffe um, indem ich nicht zuerst von Dis-
ziplinen ausgehe, sondern umgekehrt: ich setze das Paradigma von Sieg und Nie-
derlage zuerst und untersuche entsprechend die Disziplinen. Der Ursprung dieser
Oppositionen liegt einerseits in der Sprache und andererseits in der Logik der his-
torischen Entwicklung, widerstreitenden Interessen, Kämpfen um Ressourcen, Me-
dienmacht usw.
(§2) Siegeszeichen – Wenn man nach den Erscheinungsweisen des Triumphpara-
digmas fragt, stellt man fest, dass es unterschiedliche Sichtbarkeiten der beiden Pole
gibt. Während innerhalb des sozialen Feldes Sozialabsteiger keine positive Darstel-
lungsform haben (sie definieren sich ex negativo als mittel- oder arbeitslos), sind
etwa auf historischer Ebene verlorene Schlachten oftmals produktiv zu ideellen Sie-
gen umgedeutet worden (serbischer Kosovo-Epos, dänische Schlacht auf den Düp-
peler Schanzen, böhmische Schlacht auf dem Weißen Berg u.a.).
„Wenn die Macht gnädig wird und herabkommt ins Sichtbare“, schreibt Nietz-
sche, „Schönheit heiße ich solches Herabkommen“.6 Er sagt damit nichts ande-
res, als dass nur der Mächtige den Darstellungsmodus bestimmt. Dieser beginnt
schon bei der Macht der Benennung, die Jacques Derrida zufolge jeglichem Kul-
turanspruch vorausgeht, und endet bei der Macht über die Produktionsbedingun-
gen.7 Der Sieg setzt Zeichen, die Niederlage setzt sie aus. Zwar gibt es Untergeben-
heits-, Verlust-, Gedenk-, Trauerrituale usw., doch diese sind entweder vom Sieger
oktroyierte Gesten (Niederknien, Verbeugen, erhobene Hände, weiße Fahne, „Hin-
schmeißen“, Rücktritt/Kündigung), Mimikry von Siegerverhalten (Gedenkzeremo-
nien von militärischen Niederlagen, der „gute“ bzw. faire Verlierer als Spiegelung
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5 Barthes, Neutrum, S. 32. Jeglicher Sinn geht in diesem von der strukturalistischen Linguistik herrührenden
Verständnis aus einer Unvereinbarkeit von Gegensätzen und der Verdrängung eines Pols zugunsten des anderen
hervor (z.B. freier Wille vs. naturwissenschaftlicher Determinismus oder: kulturelles vs. politisches Territorium
usw.).
6 Friedrich Nietzsche, Zarathustra, Teil 2, § 13.
7 „Jede Kultur wird durch die einseitige Auferlegung einer ‚Politik‘ der Sprache eingesetzt. Die Herrschaft beginnt,
wie man weiß, mit der Macht des Benennens, der Aufzwingung dieser Benennungen und ihre Rechtfertigung.“
J. Derrida, Einsprachigkeit des Anderen oder die ursprüngliche Prothese, München 2003, S. 67.
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des gönnerhaften Siegers) oder als Triumph umgedeutete Niederlagen (Wendung
der irdischen Niederlage zum spirituellen Sieg: Eschatologie der Heimkehr ins „ge-
lobte Land“, Auferstehung Christi, generell: Durchhalteparolen, „Auswege“).
Im Gegensatz zur Niederlage hat der Sieg seine Choreographien und Symmetri-
en. Das Siegertreppchen ist symmetrisch, die Triumphbögen ebenso wie die hoch-
gerissenen Arme oder das Siegeszeichen.8 Der Sieg ist deutlich. In der Populärspra-
che der Werbung sind Siegessymboliken oftmals mit der Abbildung eines Weges
verbunden („Wege zum Erfolg“), zeigen Berggipfel bzw. Leitern, die man erklom-
men, Hürden, die man bewältigt hat („Gipfel des Erfolges“, „Erfolgsleiter“) oder
Schlüssel, die man in der Hand hält („Der Schlüssel zum Erfolg“). Zudem wird auch
auf die soziale Kohäsionskraft des Erfolges verwiesen, wenn etwa Geschäftspartner
Siegesgesten demonstrieren (z.B. erhobene Daumen). Es geht darum, zusammen als
Sieger aufzutreten, um weitere Siege zu erringen.
Diese Kohäsionskraft, die Elias Canetti als Urantrieb der Masse ansieht9, gilt
auch für den spontanen Jubel: anfangs mag er chaotisch sein, aber schnell bilden
sich selbstorganisierte Rituale heraus: vom „Autokorso“ bis zu Siegesparaden durch
Innenstädte. Der Siegestaumel strebt zu einem Attraktor hin – gleich Materie um ein
Gravitationsfeld, während die Niederlage verstreut – gleich einem Staubnebel. Wäh-
rend Sieger zusammen feiern, verzieht sich der Verlierer. Das Siegerverhalten bün-
delt. Es ist antho-logisch. Die Niederlage vereinzelt. Sie ist onto-logisch.10
Wenn Heiner Müller im Hinblick auf eine Romanszene Faulkners behauptete,
dass „jede Kultur von den Verlierern kommt“, dann ist dies nur insofern richtig, als
dass der Verlust stets nach seiner Überwindung strebt und in dieser Überwindung
jede Form der produktiven Kultur angelegt ist.11 Es ist aber nicht die Niederlage als
solche, die irgendetwas erschaffen könnte, wenn man sie nicht als psychologischen
oder moralischen Sieg umdeutet.
(§3) Zeitmacht – Der eigentliche Sinn von Souveränität ist Zeitmacht: die Ein-
schreibung von Dauer mittels Archiven, Symbolen, Gesten – kurzum: ein Regime
der Repräsentation, das bestimmt, was Wert hat bzw. was der Vergessenheit anheim
geraten soll.12 Ein Sieg hat die Funktion einer Zäsur, die dem vorausliegenden und
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8 Etymologisch passt hierzu, dass das Wort Triumph (altlat. triumpus von: tres „Drei“ und pes „Fuß“) aus dem
dreifach ausgerufenen Siegesruf io triumpe abstammt, das Teil eines klar strukturierten liturgischen Tanzrituals
war.
9 E. Canetti, Masse und Macht, Hamburg 1960.
10 Man mag einwenden, dass etwa Mobverhalten bei sportlichen Niederlagen ebenfalls zusammenhorte (man
zerschlägt zusammen Schaufenster oder verprügelt zusammen gegnerische Fans usw.), doch ist dies nur die Spie-
gelung des Siegerverhaltens: man sucht sich Sündenböcke als Attraktoren, um ein Siegerverhalten zu imitieren,
d.h. sich als Siegerkultur zu konstituieren. Nach René Girard wäre das Kompensationsverhalten der Hooligans
ein kultivierter Ersatz für die totale Konfrontation. Und angesichts der Tatsache, dass Gewalt inzwischen so
häufig ritualisiert auftritt, trifft dies wohl auch zu. Das Wichtigste bei dieser Kompensation scheint aber die
Leugnung der Niederlage durch Bündelung zu sein. Vgl. R. Girard, Der Sündenbock, Zürich 1988.
11 A. Kluge / H. Müller, Geist, Macht, Kastration, dctp, Sendung vom 8. März 1993, http://muller-kluge.library.
cornell.edu/de/video_transcript.php?f=108.
12 Es gibt für diese Prozedur je nach theoretischer Gewichtung unterschiedliche Ansätze: nach Michel Foucault ist
es die „genealogische Achse der Historie“, nach Heiner Mühlmanns Kulturgenetik das Decorumsystem, nach
Louis Althusser die Ideologischen Staatsapparate (ISA) usw. Zum Begriff der Zeitmacht: vgl. Z. Terzic, Kunst
des Nationalismus, Berlin 2006. Mediengenealogisch v.a. H. Innis, Changing Concepts of Time, Toronto 1952
150
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dem nachfolgenden Zeit-Raum eine neue Bedeutung gibt („Stunde Null“). So wird
verständlich, warum Nietzsche behauptet, kein Sieger glaube an den Zufall. Denn
der Sieger „schafft“ die Zeit, die historisch eine Funktion des Raumes ist. Eine Vor-
stellung von Vergangenheit und Zukunft kann es nicht geben, wenn es nicht Medien
gibt, die sie evozieren.13 So markieren amerikanische Astronauten das Landen auf
dem Mond (1969) und russische Expeditionstruppen das Erreichen des arktischen
Meeresbodens (2007) paradigmatisch mit ihren Nationalflaggen, als ob sie einen
Feind in die Flucht geschlagen hätten und ein Tropaion in das Schlachtfeld rammen
müssten.14 Michael Billig nennt in seiner Studie Banal Nationalism (1995) diese Stra-
tegien treffenderweise flaggings, also wörtlich „Beflaggungen“, und er meint damit
vor allem die von ihm als cold (im Gegensatz zum kriegerischen hot nationalism)
etikettierten alltäglichen Rituale, welche das ideologische Gerüst der gegenwärtigen
Staaten permanent in Erinnerung rufen.15 Es geht bei diesen Phänomenen darum,
uns an die unumstößliche Kontinuität der Zeitmacht zu binden und uns zugleich
damit zu faszinieren: „Das Licht des Gesetzes und der Glanz des Ruhmes“, wie Fou-
cault formuliert.16
(§4) Arkadia – Um dieses Licht und diesen Glanz geht es im Film Die Axt von
Constantin Costa Gavras aus dem Jahre 2005, der auf dem gleichnamigen Kriminal-
roman von Donald E. Westlake beruht.17 Die Filmhandlung ist simpel: Der Manager
und Familienvater Bruno ist seit Monaten auf der Suche nach einem Arbeitsplatz in
der Papierbranche. Er ist ein Arbeitsloser der oberen Mittelschicht, der nach etlichen
und Ders., Empire and Communications, Oxford 1950.
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13 Vgl. Innis, Empire. Innis unterscheidet klar zwischen time-binding und space-binding media, die man auch als
vertikale oder horizontale Transmissionen von Informationen umschreiben kann (über Generationen hinweg
oder innerhalb eines Herrschaftsbereiches). Ich gehe davon aus, dass die vertikale Transmission eine Funktion
der horizontalen ist.
14 Vgl. C. Seidler, Kampf um Gebietsansprüche. Spiegel-Online, 03.08.2007, http://www.spiegel.de/wissenschaft/
mensch/0,1518,498052,00.html. Das auf-Dauer-Stellen des Symbols gelingt vor allem in unzulänglichen, der
Ewigkeit verpflichteten Umgebungen. Dies erklärt wohl auch, warum sich z.B. während der jüngsten Balkan-
konflikte allererst Nationalfahnen in den Kirchen einfanden – als Supplement der celestialen Ewigkeit.
15 M. Billig, Banal Nationalism, London 1995.
16 Foucault, Licht des Krieges, S. 29.
17 Der Originaltitel des Films lautet „Le Couperet“.
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Abb. 1
erfolglosen Bewerbungen nicht mehr willens ist, die Rolle des Losers zu spielen. Als
ein Posten beim Unternehmen Arkadia frei wird, entschließt sich Bruno, sämtliche
Mitbewerber zu massakrieren, um den ersehnten Arbeitsplatz für sich zu sichern.
Seine Taten werden aber nicht als Amoklauf geschildert, sondern als Zweckhand-
lungen, die den gesellschaftlichen Status des Protagonisten erhalten sollen. Er tötet
bürgerlich. Das heißt: obwohl er mordet, ist er kein Mörder, denn in seiner Welt exis-
tieren keine niederen Beweggründe, und die Toten sind lediglich der Kollateralscha-
den einer ins Radikale gesteigerten Normalität. Der Manager wird nicht gestellt. Er
zeigt zwar anfangs Skrupel, aber letztlich siegt seine „Struktur“ über das schlechte
Gewissen, auch wenn er feststellen muss, dass seine Mitbewerber noch erbärmliche-
re Existenzen sind als er selbst. Nachdem er schließlich alle Konkurrenten beseitigt
hat, erhält er die Stelle.
Das Entscheidende für das Verständnis der Siegesthematik ist nun die gesell-
schaftliche Funktion Brunos. Aus seiner Perspektive legitimiert er sich durch eine
nach Innen gekehrte Hobbes-sche Sichtweise: nicht der Naturzustand des Men-
schen, sondern erst die Natur des Gesellschaftsvertrages bedingt, dass der Kampf al-
ler gegen alle entbrennt und die persönliche Durchsetzung in Form von Sieg, Erfolg
und letztlich Karriere den Ordnungszustand herbeiführt. Der Leviathan ist selbst
der bellum omni contra omnes.18 Nach Außen hin jedoch wird das Kriegsgeheul ge-
leugnet: Bruno verschweigt die mörderischen Siege über die anderen. Das Bild eines
triumphlosen, auf Fairness ausgelegten und geordneten Wettbewerbs (Arbeitssuche,
Vorstellungsgespräch usw.) wird aufrechterhalten.
Die Axt schildert die Tabuisierung der Niederlage in einer Gesellschaft, die vor
allem dem Sieg und der Siegertypik Bedeutung verleiht. Man könnte Bruno einen li-
beralen Attentäter nennen, denn er verschafft sich durch die Zerstörung des anderen
eine ökonomische Perspektive, zeigt zugleich aber auch Verständnis für die missli-
che Lage seiner Konkurrenten. Er ist tolerant.
Die ökonomische Perspektive wird im Film durch die Papierfabrik Arkadia dar-
gestellt. Sie ist der Attraktor, auf den sich die Siegermeute zubewegt. Sinnigerweise
wird dieser Name schon im Altertum zum Ort eines Goldenen Zeitalters verklärt,
wo Menschen unbelastet von körperlicher Arbeit und gesellschaftlichem Anpas-
sungsdruck in idyllischer Eintracht lebten. Aber diese proto-marxistische Idylle,
welche ein Gesellschaftsziel ohne Antagonismen denkt, ist trügerisch: Gegen Ende
des Films gerät der nun beruflich etablierte Bruno selbst auf die Abschussliste ei-
ner neuen liberalen Attentäterin, die sich ihn als Opfer ausgesucht hat. Beide tref-
fen sich. Obwohl er von nichts weiß, schwant ihm urplötzlich, dass er nur Teil eines
übergeordneten Triumph-Kreislaufs ist.19 Die Niederlage ist nicht gebannt, und der
Kampf vor den Toren Arkadias wütet weiter ...
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18 Thomas Hobbes, De Cive. 1642, Praefacio § 14.
19 Ähnlich, aber eher im Stile einer surrealen Komödie bearbeiten Gustave Kervern und Benoît Delépine in ihrem
Film Louise Michel (2008) das Thema. Näherinnen einer mittelständischen Stofffabrik müssen eines Morgens
überrascht feststellen, dass sich das gesamte Führungspersonal samt der Einrichtung verflüchtigt hat – „Out-
sourcing“. Die läppische Abfindung legen die Frauen zusammen, um einen Auftragskiller (Michel) zu beauf-
tragen, der dem Management nachstellen soll.
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(§5) Triumphleugnung – Während der fundamentalistische Attentäter seine Ver-
brechen feiert und süffisant zur Schau stellt, wie etwa der militante Islamist, der den
Kopf einer enthaupteten Geisel in die Kamera hält, ist der liberale Attentäter – gleich
Bruno – ein Durchsetzungsradikaler, der seinen Triumph leugnet und das Zeigen
des Triumphes unterlässt. Genau wie der Fundamentalist will er Karriere machen,
er will siegen, er will bestehen. Aber er emittiert keine Siegeszeichen. Bruno ist kein
Sieger, doch bewegt er sich im Modus des Siegens. Hans Magnus Enzensbergers
Analyse von islamistischen Attentätern als „radikalen Verlierern“20 ist so gesehen
doppelt falsch: denn zum einen betrachten sich Islamisten gegenüber dem Westen
als überlegen und nicht unterlegen (sie kämpfen gegen „Ungläubige“ und westli-
che Dekadenz), es geht zwar um Radikale, aber nicht um Verlierer; und zum ande-
ren gilt: wenn Frust und ein Inferioritätskomplex alleinige Antriebe zu Gewalt wä-
ren, dann träfe dies auch für den westlichen Staatsinterventionismus zu. Niemand
bombt sich aus Frust in ein Land oder sprengt sich mit einer Bombe in die Luft, um
als Märtyrer verehrt zu werden. Wer kein Zeichen setzen will, vollbringt gar nichts,
und wer überhaupt Zeichen setzt, ist ein Sieger. Der Unterschied zwischen dem Li-
beralen und dem Fundamentalisten besteht in der Leugnungshaltung des Ersteren.
Die Frontlinien verlaufen nicht zwischen „Kulturen“, sondern zwischen Siegern, die
es zeigen und Siegern, die es verbergen.
Ein triviales aber paradigmatisches Beispiel der Triumphleugnung zeigt der PR-
Skandal um den ehemaligen Siemensmanager Klaus Kleinfeld. Er hatte 2004 ein
Portrait in der Presse verbreiten lassen, die ihn leger im Anzug und mit einer deut-
lich sichtbaren Rolex-Armbanduhr bestückt zeigte. Als Kleinfeld bei seinem Auf-
stieg zum Chefposten im Januar 2005 ankündigte, mehrere tausend Arbeitnehmer
zu entlassen, obwohl das Unternehmen gute Zahlen schrieb, stieß seinen PR-Bera-
tern die sich mit seiner fotografischen Selbstdarstellung ergebenden symbolischen
Implikationen auf. So versuchten sie noch im Januar, mit einer Retusche, bei der das
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20 H. M. Enzensberger, Schreckens Männer – Versuch über den radikalen Verlierer, Frankfurt a. M. 2006.
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Abb. 2
Statussymbol vom Gelenk des Managers beseitigt wurde, das ursprüngliche Foto zu
ersetzen, doch dies gelang nicht, beide Versionen kursierten inzwischen in der Pres-
se.21 Derartige fototechnischen Entlarvungen kennt man aus der politischen Propa-
ganda totalitärer Staaten, hier soll aber nur darauf hingewiesen werden, dass den
Verantwortlichen das Triumphparadigma vollends bewusst war, weshalb sie auch
versuchten, den Code umzuschreiben. Die letzte Konsequenz dieser symbolischen
Prozedur wäre es gewesen, den Manager im Lumpenanzug darzustellen und seine
familiäre Herkunft aus dem Arbeitermilieu zu betonen. Entscheidend ist hier aber
nicht die Leugnung des Status in toto, sondern die Leugnung des tropaion d.h. des
Triumphmarkers, der sich hier in Form der Uhr repräsentiert. Der Manager soll
nicht als Triumphator erscheinen, auch wenn er über das berufliche Schicksal von
Tausenden bereits entschieden hat.
(§6) Entbarbarisierung – Ich glaube, dass die Leugnung des Triumphes eine his-
torisch gewachsene Geste ist – eine Pathosformel gewissermaßen –, die schon in
der Antike nachzuweisen ist. Seit den antiken Berichten über die Abscheu des Pub-
likums vor einigen Praktiken der römischen Kolosseumsspiele, die etwa besonders
grausame Tierhetzen (venationes) betrafen, lässt sich das Umschlagen des trium-
phalen Charakters analysieren.22 Wenn die Triumphhaltung so dekadent, so willkür-
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21 Das Hamburger Abendblatt hat hierüber am 29. Januar 2005 berichtet: http://www.abendblatt.de/
daten/2005/01/29/392809.html.
22 Vgl. F. Meijer, Gladiatoren – Das Spiel um Leben und Tod, Düsseldorf 2004.
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Abb. 3
lich und letztlich so grausam wird, dass vom Besiegten gewissermaßen kein „Rest“
bleibt, über den man sich symbolisch erheben kann, dann verwandelt sich die Sie-
gesdarstellung in eine Abscheu vor der eigenen Barbarei.23
Man kann dieses Umschlagen des triumphalen Charakters auch in der ersten
Antikriegsschrift der Neuzeit, in Erasmus‘ Adagium 3001 „Süß ist der Krieg den
Unerfahrenen“ (dulce bellum inexpertis) nachlesen, in dem der Humanist vehement
beklagt, dass das real existierende Christentum im Krieg brutaler und niederträch-
tiger vorgehe, als die heidnischen Barbaren, gegen die es antritt. Seine Kritik wendet
sich aber nicht nur gegen die bloße Tatsache der Selbstbarbarisierung, sondern vor
allem gegen die Propaganda einer christlichen Wertegemeinschaft bei der Durchset-
zung strategischer Interessen. Bis zu einem gewissen Grad kann man hier Norbert
Elias‘ Theorem vom Zivilisationsprozess folgen, denn dieses entspricht nicht nur
einer zunehmenden Affektregulierung und Ausdifferenzierung von Hemmschwel-
len, sondern auch einer sich ausdifferenzierenden Eichung der herrschaftlichen
Selbstdarstellung.24 Was z.B. martialische Siegessymbolik ist, wie etwa das Pfählen
oder Hochhalten des enthaupteten Kopfes des Gegners, lässt sich in repräsentati-
ven Herrschaftsgesten etymologisch ableiten. So wird einst aus dem enthaupteten
Kopf des Feindes der Reichsapfel, der die Erdkugel darstellt, und das zur Enthaup-
tung benutzte Richtschwert wird zum Zepter. Die repräsentative Symbolik durch-
läuft zahlreiche zivilisatorische Filter. So stellt heutzutage der zu Ehren von Staats-
gästen ausgerollte rote Teppich jene Blutspur nach, welche einst das Fundament der
Herrschaft bildete.25
(§7) Behauptung durch Enthauptung – Dieser Eichungsprozess lässt sich para-
digmatisch an der Zeitenwende der Französischen Revolution im Bereich der juri-
dischen Sanktionen festmachen. In seinen sechs Artikeln zur Todesstrafe hebt der
Arzt Joseph-Ignace Guillotin im Jahr der französischen Revolution die Vermeidung
eines quälenden Todes, die vereinheitlichte Methode des Vollzugs und die Individu-
alisierung der Strafe durch die Eigenverantwortlichkeit des Citoyen hervor. Guillo-
tin schafft mit seinem theoretischen Entwurf erstmals die programmatische Verbin-
dung zwischen staatlicher Sanktion und bio-ethischen Grundsätzen. Das Konzept
des humanen Tötens als juridische Sanktion, die bis in die heutige Zeit in Form der
humanitären Intervention fortlebt, setzt einen Vorbehalt: Die physiologische Dauer
des Sterbens muss unendlich verkürzt werden als unmittelbarer Übergang von ei-
nem Zustand A (Leben) in einen Zustand B (Tod) – analog zu David Humes Kritik
des Induktionsschlusses: Kugel A stößt auf Kugel B, Kugel B rollt.26 Aus staatlicher
Perspektive soll entsprechend keine „notwendige Verknüpfung“ zwischen beiden
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23 Vgl. z.B. E. Flaig, Ritualisierte Politik – Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom, Göttingen 2003; P. Vey-
ne, Brot und Spiele – Gesellschaftliche Macht und politische Herrschaft in der Antike, Frankfurt a. M. 1988.
24 N. Elias, Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde.,
Frankfurt a. M. [1939] 171992.
25 Vgl. z.B. G. Althoff, Die Macht der Rituale: Symbolik und Herrschaft im Mittelalter, Darmstadt 2003. R. Reich-
ardt, Symbolische Politik und politische Zeichensysteme im Zeitalter der französischen Revolutionen (1789–
1848), Münster 2005. B. F. Shearer, State names, seals, flags, and symbols: a historical guide, 3rd ed., rev. and
expanded, Westport – Conn. u.a. 2002.
26 David Hume [1748]. An Enquiry concerning Human Understanding, P.F. Collier & Son. 1910, § 4,1.
155
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„Ereignishälften“ gefolgert werden, denn die notwendige Verknüpfung zwischen Le-
ben und Tod wäre das schmerzhafte Sterben. Die ideale staatlich legitimierte Tötung
steht hingegen für einen Tod ohne Sterben d.h. für eine unendliche Sublimierung
des Prozesses der Sanktion und einer virtuellen „Entfernung“ des Strafsubjektes,
das idealerweise einfach nicht mehr „da“ sein soll. Und eben das beschreibt die
scharfe semantische Zäsur zwischen Leben und Tod, die das herabstürzende Fall-
beil verkörpert.
Leben | Tod
Diese Konzeption war durchaus im Sinne der Strafrechtstheorien des späten
19. Jahrhunderts. Impulse hierzu kamen vornehmlich aus Reihen der Philosophen.
So fragt sich etwa Johann Gottlieb Fichte, was die Vernunft sagen könne
zu dem Gepränge, das bei Hinrichtungen aufhängt, auf das Rad flicht, u. dgl., –
so wie die Wilden die Kopfhäute ihrer erschlagenen Feinde um sich herum aufhän-
gen? [...] Die Todesstrafen durch Martern schärfen ist Barbarei. Der Staat wird dann
ein wilder, schadenfroher rachewütiger Feind, der seinen Feind vorher noch recht
quält, damit er den Tod fühle.27
Der Antrieb zu einer möglichst raschen, schmerzfreien und nicht-triumphali-
schen Tötung basierte in der Konzeption Fichtes demnach nicht auf vertrags- oder
naturrechtlichen Bedingungen, sondern einzig und allein auf der Vorstellung eines
internalisierten zivilisatorischen Fortschritts. Dieses Anliegen wird (idealtypisch)
auch durch die symbolische Form der Inszenierung bestimmt: Das Repräsentati-
vorgan (Henker) verdeckt sein Haupt, während das des Delinquenten abgeschlagen
wird. Im Moment dieser juridischen Koinzidenz (der Staatsgewalt mit ihrer Negati-
on) treffen sich zwei Formen der „Kopflosigkeit“: der symbolisch mit seiner Kapuze
„enthauptete“ d.h. anonymisierte Henker und der ebenso symbolisch (und faktisch)
enthauptete Verurteilte. Es geht um eine doppelte Enthauptung: Anonymisierung
sowohl des Ausführenden als auch des Sanktionierten zu bloßen Organen einer
Rechtskoinzidenz.
(§8) Mangel an Sichtbarkeit – Dieses Schema der Anonymisierung als einer Ins-
tanz der Triumphleugnung setzt sich bis in die politische Gegenwart fort – etwa in
den geheim gehaltenen Namen der Bomberpiloten der NATO, die z.B. im Kosovo-
konflikt 1999 zum Einsatz kamen und in den unerwähnt bleibenden Todeszahlen der
gefallenen irakischen Soldaten während der Irakinvasionen der USA (1991/2003).
Zu bedenken ist, dass die Konzeption der „sauberen“ Hinrichtung zum Zwecke
der eigenen kulturellen Hygiene auch bis zu der bürokratischen „Massenentfernung“
in den Konzentrationslagern des „Dritten Reiches“ verfolgt werden kann. In den
Augen der Nationalsozialisten entspricht sie einer „Säuberung“ und „Entsorgung“
in einem unmittelbaren biopolitischen Sinne, obschon nicht im Sinne gewöhnlicher
____________________________________________________________________________
27 Zitiert aus: C. Martschukat, Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhun-
dert, Köln u.a. 2000, S. 205.
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staatlicher Sanktion (denn Juden wurden, wie Hannah Arendt in einem Brief an
Carl Jaspers schreibt, weder als Schuldige noch als Unschuldige d.h. gar nicht als
Rechtssubjekte ins Lager deportiert)28. Agamben notiert, „dass die Juden [...] buch-
stäblich, ganz Hitlers Ankündigung gemäß, ‚wie Läuse‘, das heißt als nacktes Leben
vernichtet worden sind.“29 Der nackte Tod des nackten Lebens entspricht einer Zä-
sur im Sinne des Fallbeils – einem tot-geworden-Sein ohne zu Sterben und in letz-
ter Konsequenz: einem nie-gelebt-Haben.30 Das unblutige und Gas- bzw. Geistartige
des Holocaust ist denn auch der zentrale Aspekt seines emblematischen Schreckens,
da er das Unbehagliche der kulturellen Behaglichkeit zutage treten lässt.
Kurzum: Die Ausbildung des gegenwärtigen Kulturempfindens ist nicht generell
ein Ausdruck von Mangel an Gewalt, sondern ein Ausdruck von Mangel an Sicht-
barkeit von Gewalt und der Verweigerung von triumphalen Markern im politischen
Tagesgeschäft. Wer tötet und dies als nüchterne Notwendigkeit darstellt, positioniert
sich innerhalb eines zivilisatorischen Kodex, wer tötet und wie im Rausch seine Op-
fer zur Schau stellt, ist ein Barbar (ethnische „Säuberer“, „Schlächter“, Terroristen).31
Im Duktus der westlichen „Verteidigung gemeinsamer Werte“ herrscht eine Pro-
grammatik, welche die Filterung des „Bloßen“, die Blutlosigkeit der Null-Tote-Dok-
trin, Kollateralrhetorik und des „Humanitär-Ethos“ samt der Beseitigung des barba-
rischen Gehalts zum modernen Wirkungsprinzip erhebt.
(§9) Siegerdiskurse – Meine Ausgangsthese war, dass die Überflutung der heu-
tigen kapitalistischen Gesellschaften mit permanent neuen Sieger- und Verlierer-
typen der Codierung und Eichung von Souveränitätsmarkern dient. Diese Codie-
rung beinhaltet auch zwei gesonderte symbolische Prozeduren: die Umdeutung der
Niederlage und die Leugnung des Triumphes. Aber keine dieser symbolischen Pro-
zeduren geschieht jenseits des Sieges, denn jede Generierung von Zeichen ist das
Geschäft der Macht. Man will z.B. als militärische Verlierer siegreich aus dem his-
torischen Bild hervorgehen und schafft sich einen Nationalmythos, wie man auch
als Sieger Loser-Eigenschaften annimmt, um sich moralisch oder zivilisatorisch zu
rechtfertigen: die Berichterstattung zu den Terroranschlägen der letzten Jahre sug-
geriert nicht nur immer wieder, dass „wir alle“ irgendwie vom Terrorismus bedroht
seien, sondern dass dieser vielmehr schon über „uns“ gesiegt hätte. Dieser Niederla-
gengestus („preemptive defeat“) verdeckt oder verleugnet nach außen hin die über-
dimensionale Ordnungsmacht gegenwärtiger Macht- oder Mediensysteme. Diese
Ausweitung des „Wir“ hatte und hat zur logischen Konsequenz, dass Terroristen zu-
nehmend in aller Beliebigkeit d.h. irgendwo Anschläge verüben können, und diese
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28 H. Arendt, Denken ohne Geländer, München 2008.
29 G. Agamben, Homo sacer, Frankfurt a. M. 2002, S. 124.
30 Ideengeschichtlich ist in diesem Zusammenhang die „Auslöschung“ Ahasvers in Richard Wagners Pamphlet
„Das Judentum in der Musik“ (1851) zu erwähnen, die auch von einer unvermittelten und vollständigen Besei-
tigung der Juden kündet.
31 Das Theorem Bazon Brocks, demzufolge Krieg zum Gegenstand der Unterhaltung wird, liefert eine Beschrei-
bung desselben Symptoms aus anderer Richtung. Denn Triumphmarker und martialische Gesten werden z.B.
in der Kinoindustrie pausenlos verarbeitet. Sie sind das mediale Komplement der Friedensgesellschaften. Vgl.
B. Brock, Die Re-Dekade. Kunst und Kultur der 8oer-Jahre, München 1990. Ders., Ästhetik gegen erzwungene
Unmittelbarkeit, Schriften 1978–1986, Köln 1986.
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werden dann sofort als Generalangriff auf die gesamte Grundordnung verstanden,
ob es sich um Amtsgebäude, Botschaften, Züge, Marktplätze oder private Hotels
handelt. Noch nie war es so leicht, ein Zeichen zu setzen. Noch nie war es so leicht,
Sieger zu sein. Und merkwürdigerweise hat diese Konstellation ihre treffendste Ana-
logie in der Finanzwirtschaft, deren Siegesblasen offenbar leichter platzen können
als die Bedeutungsblasen der wehrhaften Demokratien.32
Ich behaupte, dass in der heutigen politischen Wirklichkeit eine maßgebliche
zivilisatorische Auszeichnung darin besteht, in bestimmten Zusammenhängen den
Triumph zu leugnen. Vermeidet man diesen triumphalen Modus, so gewinnt man
einen größeren Spielraum, seine Handlungen zu legitimieren.33
Entsprechend müssen wir erkennen, dass auch friedliche Kooperationskulturen
nicht außerhalb des Triumphparadigmas stehen. Dialoge der Religionen, Kulturen
des Dialogs, „Weltethiken“ usw. sind ebenfalls Siegerdiskurse, insofern sie Zeichen
setzen und insofern sie all jene ausschließen, die keine Religionen, keine Sprachen,
keine „Stimmen“, keine Kulturen usw. haben.
(§10) Wider das Paradigma – Diese Problematik hat Roland Barthes Ende der
70er-Jahre prinzipiell erkannt, wenn er mit seiner Nicht-Figur des Neutrums einen
semiologischen Feldzug gegen das (Triumph-)Paradigma führt.34 War dieser Feld-
zug erfolgreich? Es geht hier nicht um Friedens- oder Abrüstungsinitiativen oder
dergleichen, denn auch sie zeugen von einem Siegen-Wollen. Es geht um die Mög-
lichkeit, überhaupt jenseits des Paradigmas wahrnehmen zu können, jenseits von
Einstaaten- oder Zweistaatenlösungen argumentieren zu können, jenseits von Glo-
balisierungs- oder Regionaleinbettungen denken zu können – letztlich jenseits von
Politik, Politik wahrnehmen zu können. Sie zeugt von einer Unmöglichkeit des Ort-
und Ereignisdenkens, die auch und insbesondere im so genannten Poststruktura-
lismus ihren Niederschlag gefunden hat bzw. noch zu finden sucht. Barthes Neut-
rum steht für eine exerzierte intellektuelle Utopie, die sowohl im Morgen- als auch
im Abendland in Kunst und Literatur ihre Spuren hinterlassen hat. Und ihm galt es,
diese Spuren konzise lesen und erfassen zu können, die in der Fülle dominierender
Zeichenstrategien unterzugehen droh(t)en.
Viele Projekte – ob Theorien, ob Kunst- oder Sozialprojekte –, die bislang der
gesellschaftlichen Einschreibung des Triumphparadigmas ideell oder materiell be-
gegneten, teilten denselben Mangel: dass sie von der Warte des Siegers konzipiert
werden, dass sie glauben, dem Verlierer etwas überreichen zu können, das ihm
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32 Der Ausbruch des Versagens in den internationalen Finanzmärkten seit 2008 ist der selbstverordneten Bannung
der Niederlage zuzuschreiben, die auch Costa Gavras in seinem Film ausmacht. Denn es sind nicht die Spe-
kulationen an sich, welche die flächendeckende Krise schaffen, sondern die Tatsache, dass sie plötzlich Verlust
einbringen, dass das hermetische Siegessystem von der Niederlage „durchbrochen“ wird, die zwar schon immer
Teil des Systems ist, aber immer unsichtbar und vereinzelt gehalten wurde. Andernfalls wären die Geschäfts-
praktiken immer noch üblich. Erst der flächenhafte Ausbruch der Niederlage macht sie „kriminell“, „unethisch“
usw. Die Krise fördert die Gefahr zutage, dass jeder zum Loser werden kann, dass also die Nomenklatura der
Erfolgreichen ihren Nimbus verliert und es nun nicht Einzelne sind, die als Loser notwendiger Bestandteil des
Systems sind, sondern das System selbst.
33 Systeme, die der Codierung der Triumphleugnung folgen, erachten andere Systeme, die dieser Codierung nicht
folgen, als „barbarisch“, „dekadent“ u. dgl.
34 Barthes, Neutrum.
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hilft, seinen Status umzudeuten. Dieses „Geben“ ist aber schon eine triumphale
Geste, die den Verlierer definiert und ihn von der emanzipatorischen Umfassung
bannt.35 Die Umdeutung geschieht nicht außerhalb der Niederlage, sondern in ihr
und durch sie.
Das Triumphparadigma löst sich niemals vordergründig auf, sondern in der
Aushebelung der zugrunde liegenden Logik. Es nützt nichts gegen Krieg zu sein,
wenn man nicht gegen seine Logik revoltiert. Diese Revolten sind Teil einer logi-
schen oder – wenn man will – dialektischen Entwicklung des abendländischen Den-
kens. Man erkennt sie schon in Platons Figur des atopos, jenes Aussätzigen, Un-
zeitgemäßen, Unpassenden, das nicht nur den Text, sondern auch die Textur eines
Diskurses ad absurdum führt.36 Eine verwandte Aushebelungsdynamik des Diskur-
ses benutzt Zygmunt Bauman, wenn er die Figur des Fremden einführt, um das
Freund-Feind-Gefüge zu unterminieren.37
(§11) Siegreich hervorgehen heißt letztlich, nicht nur einen Wettbewerb zu ge-
winnen, sondern es heißt auch in Elias Canettis Sinne eine höhere Stufe im Über-
lebenswettbewerb zu erklimmen (der Sieger ist ontologisch „besser“). Der Antago-
nismus ist nicht nur eine militärische, ökonomische oder massenmediale Kategorie,
sondern auch eine existenzielle.
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35 Es gab z.B. immer wieder künstlerische Projekte, die modellhaft versuchen, den sozialen Absteigern eine „Stim-
me“ zu geben, welche nach Jacques Ranciere eine Vorbedingung für Politik ist. Wenn Gayatri Spivak die Frage
aufstellte, ob die Subalternen sprechen können, so lässt sich nämlich fragen, ob und welche Gesten sie generieren
können. So waren beispielsweise Projekte wie die „glücklichen Arbeitslosen“ (Wien), „unvermittelt“ (Berlin)
oder die „Absageagentur“ (Berlin) Versuche, das gesellschaftliche Siegertreppchen gewissermaßen seitenver-
kehrt in den Boden zu rammen. Man sollte diese Aktivitäten jedoch als Modelle und nicht als Maßnahmen
begreifen.
36 Platon benutzt den Begriff atopos, um an einigen Stellen Sokrates‘ Verhalten oder Wesen darzustellen, so etwa
im Symposion (175a), als Sokrates auf dem Weg zum Gastmahl sinnierend zurückbleibt und erst verspätet zur
Abendgesellschaft hinzukommt.
37 Z. Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992.
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Abb. 4
Sieger und Verlierer werden zu ontologischen Kategorien des gesellschaftlichen
Lebens. Das Sieger-sein ist ein anderes Sein als das Verlierer-sein. Michel Foucaults
Beschreibung des binären Codes der Gesellschaften greift hier in das Fundament
der bürgerlichen Werteordnung. Mit der hieran anknüpfenden zyklischen Idee
der natürlichen Konkurrenz zeigt sich die soziallogische Konsequenz des liberalen
Attentäters.
Der Mensch ist anthropologisch ein Zeige-Wesen. Dort, wo er das Paradigma
der Souveränität (Geschichte, Staat, Nation, Krieg, Museum) nicht ablegt, denkt und
zeigt er in Sieg und Niederlage, aber nur dort, wo er nicht zeigt oder nichts zeigt
(phänomenologisch im Sinne des Barthes-schen Neutrums), ist er eigentlich frei.
Menschheit und Freiheit sind zwei natürliche Gegensätze, und dies wird im Zeichen
des Triumphes und in der Zeichenlosigkeit der Niederlage deutlich.
(Erstmals erschienen in: Schneider, Ingo (et al.) : Inszenierungen des Sieges. Innsbruck, 2010.)